Kaliningrad: In Russlands westlichstem Vorposten

Nr. 14 –

Eingequetscht zwischen den EU-Staaten Polen und Litauen: Wie hat sich das Leben in Kaliningrad mit dem russischen Angriff gegen die Ukraine verändert? Und wie blicken die Bewohner:innen der Stadt auf den Krieg? Ein Streifzug.

Stelltafeln mit Abbildungen der «Helden mit ewig russischem Herzen» auf einem Platz in Kaliningrad
Geringes Interesse: Kaum jemand will die «Helden mit ewig russischem Herzen» anschauen.

Geografisch betrachtet ist die russische Exklave Kaliningrad geradezu vom Westen umzingelt. Die Anbindung an die Nachbarn hat sich mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine allerdings verändert: Zwar steht der Zugang zu internationalen Gewässern nach wie vor offen, der Personenverkehr über die in Friedenszeiten mehr oder weniger durchlässigen Grenzen in die EU- und Nato-Staaten Polen und Litauen ist seit dem Herbst indes enorm eingeschränkt.

Busse und Pkws transportieren keine Tourist:innen mehr, sondern vor allem Menschen mit Wohnsitz oder Arbeitserlaubnis in der EU. Im November begann die polnische Seite zudem mit dem Ausbau ausgefeilter Grenzanlagen – Videokameras, Bewegungsmelder und Stacheldraht symbolisieren die Abschottung gegenüber Kaliningrad nicht nur, sie schaffen auch knallharte Fakten: Heute erstreckt sich der Zaun bereits über eine Länge von über hundert Kilometern.

Personenzüge nach Moskau, St. Petersburg und Sotschi fahren nach wie vor auf den alten Routen, für Flugzeuge russischer Airlines bleibt der europäische Luftraum bis auf Weiteres komplett gesperrt. Da sie jetzt einen langen Umweg übers Meer zurücklegen müssen, verlängert sich die Flugzeit von der russischen Hauptstadt nach Kaliningrad erheblich. Früher kam man in der gleichen Zeit bis nach Berlin.

Kaliningrad und die Nachbarländer

Karte von der russischen Exklave Kaliningrad und Nachbarländer
Karte: WOZ

An der Grenze abgewiesen

Taxifahrer Dima scheint sich wenig an dieser Entwicklung zu stören. Der geschätzt um die sechzig Jahre alte ausgebildete Ingenieur stellt sich mit einem russischen Vornamen vor. Als ethnischer Ossete aus dem georgischen Gori, der Geburtsstadt von Josef Stalin, heisst er jedoch garantiert anders. In den achtziger Jahren begann Dimas Berufskarriere in Kaliningrad, wo er den wirtschaftlichen Niedergang der einst blühenden Region erlebte. In seine Heimat würde er um nichts in der Welt zurückgehen. «Diese ganzen sogenannten Farbrevolutionen, ob in Georgien oder in der Ukraine, bringen nichts», erklärt er.

Obwohl Dima vieles an den ökonomischen Zuständen im Kaliningrader Gebiet auszusetzen hat, mag er über die politische Entwicklung des Landes nicht reden. Auf die kriegsbedingten Grenzschliessungen für russische Staatsangehörige angesprochen, reagiert er knapp und ohne sichtbares Bedauern. Selbst habe er von den Reisemöglichkeiten in die Nachbarländer nie Gebrauch gemacht. Insofern fühle er sich jetzt auch nicht isoliert.

Anders Anna Alimpijewa. Bis zum Herbst reiste die Soziologin, so oft es ihre Zeit erlaubte, in die EU. Inzwischen muss sie selbst bei Vorlage gültiger Reisedokumente damit rechnen, aufgrund ihres russischen Passes an der Grenze abgewiesen zu werden. Nicht nur deshalb denkt sie nun über Emigration nach. Alimpijewas Engagement in ökologischen und sozialen Initiativen kostete sie vor einigen Jahren den Job: 2018 wurde ihr Arbeitsvertrag an der Kaliningrader Universität nicht mehr verlängert – nach über zwanzigjähriger Tätigkeit als Dozentin. Seither schlug sie sich mithilfe von Bekannten als freie Soziologin durch; mit Beginn des russischen Angriffskriegs sind ihr alle Aufträge weggebrochen. «Ich hätte zum Arbeiten natürlich auch nach Russland fahren können», konstatiert Alimpijewa. Dass das nicht infrage kommt, ist schon an ihrer Tonlage zu erkennen.

Graffiti mit «Z»-Symbol an einer Hausmauer in Kaliningrad
Verhaltene Unterstützung für den Krieg: «Z»-Symbole sind in Kaliningrad kaum zu sehen.

Die einstige ostpreussische Metropole Königsberg heisst seit 1946 Kaliningrad. Doch wann immer Bewohner:innen ihre Verbundenheit mit der Stadt zum Ausdruck bringen wollen, bemühen sie lieber die Vorkriegsgeschichte und sprechen von «König». Vor über zehn Jahren hatte Alimpijewa in einer Studie die Identität der Bevölkerung untersucht – und war zum Schluss gekommen, dass die Menschen sich gerade durch ihr Leben in Kaliningrad Russland stärker zugehörig fühlen. Hier sei vieles attraktiv, darunter die Nähe zu Europa, selbst jetzt, wo Europa nicht mehr zum Greifen nah sei, sagt sie. «Kaliningrad bindet die Menschen an Russland.»

Ihr Russland sei Kaliningrad, nicht die Landesteile im Osten. Wer kein so inniges Verhältnis zur Stadt pflege, lebe ohnehin längst im westlichen Ausland, glaubt die Soziologin. Werbung für Arbeitsvisa in Polen oder der Slowakei findet sich zwar nicht an jeder Ecke, aber häufig genug, um festzustellen, dass es durchaus eine relevante Nachfrage nach Abwanderung Richtung Europa gibt. Das war vor dem Krieg gegen die Ukraine so und ist es auch heute.

Wie ein stummer Dialog

Im Vorbeigehen aufgeschnappte Gesprächsfetzen zeugen von Routine und geschäftiger Normalität – als ob die Welt nach dem 24. Februar 2022 nicht kopfstünde. Auch beim Treffen mit Valerija Skworzowa entsteht nicht der Eindruck, dass sich für sie seither viel verändert hat. Die junge alleinerziehende Mutter arbeitet als Köchin in einer Schule – für Reisen in die Eurozone fehlte ihr schon immer das nötige Geld. Ausserdem gefällt ihr Kaliningrad mit seiner deutschen Vorgeschichte, den vielen historischen Gebäuden und den mit öffentlichen Verkehrsmitteln unkompliziert zu erreichenden Stränden und Sehenswürdigkeiten im Umland. Noch muss sie sich zudem über die Zukunft ihres achtjährigen Sohnes keine grossen Gedanken machen – bis zum Wehrdienst ist es bei ihm noch eine Weile hin.

Lokale Antikriegsaktivist:innen suchen indes gezielt nach äusseren Anzeichen für die Unterstützung des Angriffs auf die Ukraine: In einem Telegram-Chat dokumentieren sie Orte mit visueller Kriegspropaganda. Aufdringliche Werbetafeln mit dem Kriegssymbol «Z» sind jedoch rar gesät, zumindest im Stadtzentrum. Fast schon schizophren wirkt eine unübersehbare Konzertankündigung vor dem staatlichen Jugendzentrum anlässlich des Jahrestags der Einnahme von Königsberg durch die Rote Armee. Das Motto: «Wenn nur kein Krieg wäre.»

Wandschmierereien zum Krieg gegen die Ukraine finden sich ebenfalls nicht allzu viele. In einer Unterführung voller Graffiti hat jemand mit weisser Farbe gegen Ukrainer:innen gerichtete Schimpfwörter hinterlassen und ein «Ja zum Krieg» hinzugefügt. Auf der gegenüberliegenden Seite steht in Schwarz unzählige Male der Satz «Wir werden getötet». Die Aufschriften lesen sich wie ein stummer Dialog, wobei nirgendwo zu sehen ist, wer mit «wir» gemeint sein könnte. An einer Hauswand in der Nähe wird das «Z» von einem Keltenkreuz ergänzt – eindeutige «Grüsse» von Neonazis.

Ganz untätig bleibt die Stadtverwaltung nicht, um den Kaliningrader:innen die von Staates wegen gewünschte Lesart dessen nahezubringen, was im offiziellen Sprachgebrauch immer noch irreführend als «spezielle Militäroperation» bezeichnet wird. So ist auf dem Platz des Sieges unweit des ehemaligen Gestapo-Hauptquartiers eine Ausstellung mit dem Titel «Helden mit ewig russischem Herzen» zu sehen. Auf mehreren Tafeln wird das Narrativ von der Kontinuität von Russlands antifaschistischem Kampf im Donbas von den vierziger Jahren bis heute bedient. Ein älteres Paar hält kurz inne und macht sich mit den modernen «Held:innen» vertraut – die historischen kennen sie vermutlich. Beim Betrachten verlieren sie kein Wort. Vielleicht auch deshalb, weil ihnen nicht entgeht, dass sie von der Autorin beobachtet werden. Jüngere Leute eilen vorbei, ohne die Fotos auch nur eines Blickes zu würdigen.

Loyal gegenüber dem Machtapparat

Dass hinter dieser Ignoranz lediglich plumpes Desinteresse steckt, liesse sich zwar vermuten. Aber das muss nicht so sein. In Russland haben die Menschen über Jahrzehnte gelernt, dass politische Distanzierung die sicherste Art ist, sich durchs Leben zu manövrieren. Vor dem Hintergrund sich verschärfender Repression der Strafverfolgungsorgane kommt diesem Credo doppeltes Gewicht zu. Dabei gab es durchaus Zeiten, in denen Kaliningrad zu den aktivsten Protestregionen des Landes zählte.

Ein Blick auf die Datenlage verrät, dass Kaliningrad hinsichtlich der Zahl erfasster Ordnungsverstösse wegen «Diskreditierung der Armee» in den Top Ten liegt. Allerdings könnte das genauso gut heissen, dass die Polizei das Internet hier besonders emsig nach kritischen Äusserungen durchforstet und ihr Vorgehen vorrangig darauf ausgerichtet ist, dem Machtapparat in Moskau einen überzeugenden Loyalitätsbeweis zu liefern.

Eine lokale Besonderheit gilt es speziell zu erwähnen: Schon seit Jahren durchdringt die Devise vom Kampf gegen die Germanisierung die Berichterstattung in staatsnahen Medien. Wo das materielle deutsche Kulturerbe noch akzeptabel erscheint, wird ideelles Gedankengut zusehends suspekt. Das trifft unweigerlich auch auf den wohl berühmtesten Königsberger zu: Immanuel Kant.

Der Autor der Schrift «Zum ewigen Frieden» ist für das heutige Kaliningrad, so scheint es, touristisch vermarktbarer Segen und Fluch zugleich. Kants Philosophie steht in argem Kontrast zum Kriegskurs der Regierung. Sein Grab am hinteren Teil der Kathedrale erstrahlt nachts in glutrotem Licht. Eine 1857 errichtete Statue, die ihn in quicklebendiger Pose zeigt, befindet sich hingegen in der finstersten Ecke eines weitläufigen Platzes vor der Universität. Das matte Licht der Laternen hat keine Chance, dorthin durchzudringen.