Neue AKWs: Putins Atomoffensive

Nr. 10 –

Die russische Atomindustrie will massiv expandieren – nach Europa, in den Fernen Osten und in die Arktis. Das in Kaliningrad geplante AKW ist ein erster Schritt.


Neman ist eine Kleinstadt in der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad. Bisher lag der 12 000-EinwohnerInnen-Ort am Südufer der Memel abseits der internationalen Politik. Doch das könnte sich nun ändern. Denn vor zwei Wochen legte man hier den Grundstein für ein neues russisches Atomkraftwerk, für das Rosatom – der staatliche russische Atomkonzern – europäische Unternehmen als Investoren gewinnen will. Im Gespräch ist dabei vor allem der deutsche Siemens-Konzern.

Das «baltische Atomkraftwerk» – so der offizielle Arbeitstitel für den neuen Atommeiler – soll ab dem Jahr 2016 die baltischen Staaten sowie Schweden, Polen und Deutschland mit Strom versorgen. Geplant sind zwei WWER-Druckwasserreaktoren mit einer Gesamtleistung von 2300 Megawatt. Ausschlaggebend für die Standortwahl waren zwei Überlegungen: Einerseits unterstreicht der Kreml bei jeder Gelegenheit die Zugehörigkeit des von den EU-Staaten Polen und Litauen umgebenen Kaliningrad zur Russischen Föderation und hat im dortigen Hafen einen Teil der russischen Ostseeflotte stationiert. Andererseits aber will Russland die Exklave verstärkt als Brückenkopf für Stromlieferungen nach Europa nutzen.

Ein Geheimpapier

Durch die Abschaltung des litauischen Atomkraftwerks Ignalina Ende 2009 – ein AKW vom Tschernobyl-Typ – sei in der Region eine Energielücke entstanden. Mit diesen Worten begründete Rosatom-Chef Sergei Kirijenko den Bau des neuen Meilers. Die Regierung in Vilnius plant zwar mit Polen und den baltischen Nachbarstaaten Lettland und Estland ein neues AKW. Doch momentan fehlt den Regierungen das Geld dafür. Nach Meinung von ExpertInnen wird es jedenfalls frühestens 2020 fertig sein. Und so prescht Russland nun vor.

Rosatom, das das Neman-Projekt zu 51 Prozent kontrollieren wird, plant sogar schon Stromleitungen in die europäischen Nachbarländer. Das geht aus einem Geheimpapier des russischen Stromexporteurs Inter Rao Ees – eine Rosatom-Tochter – hervor, das der russischen Umweltorganisation Ekosaschita aus der Gebietsregierung von Kaliningrad zugespielt wurde.

Kaliningrads Gouverneur Georgi Boos verspricht sich vom AKW-Projekt einen Prestigezuwachs. Er stellt neue Arbeitsplätze in Aussicht und mehr Steuereinnahmen für die wirtschaftlich vernachlässigte Region. Ob die Hoffnungen des Gouverneurs in Erfüllung gehen, ist jedoch zu bezweifeln – nach einer Umfrage des Soziologischen Zentrums von Kaliningrad lehnen 67 Prozent der lokalen Bevölkerung das AKW-Projekt ab. Im Herbst letzten Jahres kam es in der Stadt Sowjetsk, nicht weit vom Bauplatz, zu einer ersten Kundgebung von AtomkaftgegnerInnen. Das Energiedefizit des Gebiets könne auch mit dem Neubau von Gas- und Torfkraftwerken gedeckt werden, sagen die KritikerInnen.

Siemens drängt nach Osten

Boos ist auf Erfolge dringend angewiesen. In Kaliningrad reissen Grossdemonstrationen gegen die soziale Not nicht ab. Ende Januar demonstrierten Zehntausende gegen Steuererhöhungen und steigende Wohnkosten. Anfang März gab es eine zweite Demonstration in der Stadt Tschernjachowska mit 5000 TeilnehmerInnen, und für den 20. März ist in Kaliningrad schon die nächste Grosskundgebung geplant.

Sollte Siemens zum Zug kommen, hätte zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs ein deutsches Unternehmen Einfluss im ehemals deutschen Ostpreussen gewonnen. Siemens drängt seit langem auf die osteuropäischen Märkte. Anfang 2009 hatte der Konzern seinen Ausstieg aus dem deutsch-französischen Atomkraftkonzern Areva bekannt gegeben und eine Kooperation mit Rosatom angekündigt. Der Kreml ist schon länger in Kontakt mit dem Grossunternehmen: Nach einem Treffen zwischen Ministerpräsident Wladimir Putin und Siemens-Chef Peter Löscher unterzeichneten Rosatom und Siemens im März 2009 eine Absichtserklärung über die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens. Es soll «die Entwicklung der russischen Druckwasserreaktor-Technologie weiter vorantreiben», hiess es in einer Pressemitteilung. Besonders verlockend für Siemens sind Rosatoms Erfahrungen auf dem Gebiet des Brennstoffkreislaufs. Mit diesem Partner will Siemens den Weltmarkt erschliessen. Bis 2030 müssten weltweit 400 neue AKWs gebaut werden, argumentierten die beiden Konzerne in einer gemeinsamen Erklärung. Allein 26 davon will Rosatom in Russland errichten; sieben Reaktoren sind zurzeit im Bau.

Schwimmende AKWs

Momentan arbeiten in Russland zehn Atomkraftwerke mit insgesamt dreissig Reaktoren. Nach der Tschernobyl-Katastrophe und wegen des Wirtschaftschaos unter Boris Jelzin wurde in Russland bis 2001 kein neues AKW gebaut. Das änderte sich unter Putin, der den Atomstromanteil von 16 auf 25 Prozent erhöhen will. Seither wurden zwei neue Reaktorblöcke der Atomkraftwerke Wolgodonsk (Rostow) und Kalininskaja (bei Moskau) in Betrieb genommen.

Das Staatsunternehmen Rosatom plant nicht nur herkömmliche AKWs. 2013 soll das erste schwimmende AKW vor Kamtschatka ganz im Osten Russlands in Betrieb gehen. Die schwimmende Plattform von 144 Metern Länge und 30 Metern Breite, auf der zwei 35-Megawatt-Reaktoren installiert werden, liegt zurzeit in der St. Petersburger Werft Baltiskij Sawod auf Kiel.

China, Thailand, Südkorea und Indonesien haben bereits Interesse an Russlands schwimmenden AKW bekundet. Für den russischen Bedarf will Rosatom-Chef Kirijenko zehn solcher AKWs ordern. Sie sollen entlang der russischen Nordküste stationiert werden und den Strom für die Ausbeutung arktischer Rohstoffe (vor allem Öl und Gas) liefern.