Literatur: Die Fiktion in der Fiktion

Nr. 14 –

Mit «Die Geschichte von Romana» liegt der erste Band der Amadoka-Trilogie der ukrainischen Autorin Sofia Andruchowytsch auf Deutsch vor – ein Roman über die Macht des Erzählens.

Portraitfoto von Sofia Andruchowytsch
In einem Soldaten mit Amnesie erkennt die Protagonistin ihren Mann, oder will ihn erkennen. Sofia Andruchowytsch erzählt auch vom Erzählen. Foto: Valentyn Kuzan

Wenn man Sofia Andruchowytschs neuen Roman liest, kommt es einem manchmal so vor, als schäle sich aus einer Geschichte die nächste heraus, aus dieser wieder die nächste – und als gehe das wie in einer Spirale immer so weiter, bis einem schwindlig wird. Das Spiel mit der Fiktion in der Fiktion ist Teil ihrer Erzählung, und die Annahme, dass historische Geschichtsschreibung bis zu einem gewissen Grad Fiktion bleiben muss, ist Thema ihres Romans. «Die Geschichte von Romana» heisst Andruchowytschs Buch. Es ist der erste Teil der Amadoka-Trilogie, die in der Ukraine, dem Heimatland der Schriftstellerin, bereits 2020 vollständig erschienen ist. Nun erscheinen die Bände nach und nach auf Deutsch (die weiteren folgen im Herbst 2023 und Herbst 2024).

Schon der Titel der Trilogie und der Name der Hauptfigur weisen darauf hin, dass es um geschichtliche Legenden gehen könnte. Das Wort «Amadoka» geht auf Herodot zurück; der griechische Geschichtsschreiber bezeichnete damit einen riesigen See, der sich einst auf dem Gebiet der heutigen Ukraine befunden haben soll – ob es ihn wirklich so gegeben hat, ist ungewiss. Die Protagonistin des ersten Teils heisst Romana und ist Archivarin, hat also beruflich mit Erinnerungsarbeit und Geschichtsschreibung zu tun. Dem Leser wird mit Blick auf Romana schnell klar: Der Erzählerin und dem Erzählten ist nie ganz zu trauen.

Mann ohne Vergangenheit

Die Geschichte, wie sie sich die Protagonistin Romana zurechtlegt, hat mit einem Kriegsversehrten aus dem Donbas zu tun. Im Osten der Ukraine hatte er gekämpft, wurde dabei verwundet und entstellt, sein Gesicht ist nicht wiederzuerkennen. In einem Krankenhaus findet sich der namenlose Soldat als Mann ohne Vergangenheit wieder, er kann sich an nichts erinnern. Romana aber erkennt in ihm ihren verschollenen Mann Bohdan. Oder will sie ihn in ihm erkennen?

Dieser Bohdan hat ihr einst einen Koffer voller Dokumente und Artefakte hinterlassen, anhand dieser Gegenstände und Fotos schlüsselt sie die vermeintliche Geschichte des rätselhaften Patienten auf und verfolgt sie über mehrere Generationen zurück. Denn, so sinniert Romana, schon Bohdan habe einst festgestellt, «dass jeder beliebige Gegenstand eine Geschichte erzählte. Dass er, verbunden mit anderen Dingen, die sich im Inneren der Erde abgelagert hatten, die Geschichte von der Erschaffung der Welt erzählen könnte, die Geschichte des Krieges, die Geschichte des Menschen.»

Genau dies will auch Andruchowytsch mit ihrem Buch. Die Handlung führt zum einen zurück in die Stalin-Zeit. Andruchowytsch zeigt, was Menschen unter den Bedingungen der Diktatur zu tun vermögen, wie Wertesysteme durch staatliche – hier sowjetische – Narrative entstehen. Die Leser:innen begegnen Stalins zu Helden erkorenen Helfern, den «Erbauern der neuen Ordnung», wie sie an einer Stelle genannt werden. Zum anderen bildet der seit 2014 andauernde Krieg im Donbas das Hintergrundrauschen dieses Romans, Versehrte wie «Bohdan» sind seither Realität in Andruchowytschs Heimatland – inzwischen noch in viel grösserem Ausmass. In einem Fernsehinterview sagte die Autorin kürzlich: «Dieses Buch ist ein Vorwort zum Krieg, eine Fortsetzung der Geschichte Russlands mit seinen imperialistischen Bestrebungen, seiner ewigen Gier.» Wenn Russland in der Lage wäre, so Andruchowytsch, sich von den einst kolonisierten Staaten zu trennen, fiele die gesamte Erzählung von der grossen russischen Nation in sich zusammen. Woraus dieses Narrativ besteht – auch das ist Gegenstand dieses Buchs.

In der Schwebe

Von Sofia Andruchowytsch, die aus Iwano-Frankiwsk stammt und die Tochter des Schriftstellers Juri Andruchowytsch ist (siehe WOZ Nr. 49/22), war bislang nur der Roman «Der Papierjunge» (2016) auf Deutsch erschienen. Das Amadoka-Epos, das in der Ukraine grössere öffentliche Diskussionen über die Geschichte des Landes ausgelöst hat, könnte Sofia Andruchowytsch nun auch im deutschsprachigen Raum bekannter machen.

Wer diesen ersten Teil der Trilogie gelesen hat, dürfte jedenfalls gespannt sein, wie sich die Geschichte um diese höchst unzuverlässige Erzählerin und den Kriegsversehrten in die Gesamthandlung fügen wird. Die Psychiaterin, die den Amnesiepatienten im Spital betreut, sagt im Lauf der Handlung zu Romana: «Wissen Sie, was er einmal zu mir gesagt hat? […] Er hat gesagt: ‹Was ist, wenn ich mich an nichts erinnern will? Wenn ich dort, in der Vergangenheit, unglücklich war? Wenn ich ein schlechter Mensch war, ein Verbrecher, Vergewaltiger, Mörder? Was, wenn ich aus meinem Leben in den Krieg geflohen bin, um nie wieder dorthin zurückzukehren?›»

Was die Vorgeschichte des Soldaten ist, was er im Donbas erlebt hat, all das lässt die Autorin in der Schwebe. Und wenn man nach der Lektüre auch nichts Gewisses über «Bohdan» weiss – über die Ukraine in der Sowjetzeit und über die Mechanismen des Stalin-Staats erfährt man eine Menge. Andruchowytsch gelingt es, die Geschichte eines Landes zu erzählen und dabei Räume des Zweifels und Zweifelns zu lassen.

Buchcover von «Die Geschichte von Romana. Das Amadoka-Epos»

Sofia Andruchowytsch: «Die Geschichte von Romana. Das Amadoka-Epos», Teil 1. Roman. Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck. Residenz Verlag. Salzburg 2023. 304 Seiten. 38 Franken.