Literatur: Das Verdrängte ans Tageslicht holen

Nr. 1 –

Die ukrainische Erzählerin Tanja Maljartschuk zeigt sich in ihrem neuen Buch als grosse Essayistin. Angesichts des Krieges spürt sie, wie ihre Sprache erkaltet – und kämpft gegen das Verstummen.

Portraitfoto der ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk.
So dicht, mit solch sprachlicher Feinheit wie sie nähert sich kaum ein:e Ge­gen­wartsautor:in der ukrainischen Historie: Tanja Maljartschuk. Foto: Gerhard Leber


Auf welche Weise Tanja Maljartschuk verborgene Erinnerungen ausgräbt, wie sie Geschichte und Geschichten erzählt, wie sie Kollektives mit Individuellem verbindet, das ist tief berührend. Zum Beispiel in ihrem Essay «Zurik!» aus dem Jahr 2021, in dem die ukrainische Autorin über das ostgalizische Dorf schreibt, in dem ihre Eltern aufgewachsen sind. Wenn sie dort war, hörte sie oft Ausdrücke, die sie keiner Sprache zuordnen konnte: «zores», «bachur», «zurik», «zymes».

Nach und nach setzt sich die Geschichte des Dorfes für die Autorin zusammen: Sie erfährt von der Synagoge, die einst im Ort stand, sie denkt an das nahe Kolomyja mit dem von den Nazis errichteten Ghetto. Die Gräuel des Holocaust lassen sich heute im Dorf nur noch an jenen Resten des Jiddischen erahnen, nirgends sonst: «Noch wusste ich nicht, dass man auf diesem verwüsteten Stück Erde die Landschaften nicht mit Augen betrachten sollte, sondern mit den Ohren. Obwohl keiner etwas sagt, sollte man hier zuhören, um die Wahrheit zu erkennen», schreibt Maljartschuk.

Lachen in schwarzer Nacht

In den vergangenen Jahren ist Tanja Maljartschuk vor allem als Prosaautorin in Erscheinung getreten. Im Roman «Blauwal der Erinnerung» (2019) hat sie sich etwa mit ukrainischen Exilant:innen im Wien der 1920er Jahre beschäftigt. Im Jahr davor gewann sie für die Erzählung «Frösche im Meer» den Bachmann-Preis. Aufgewachsen im westukrainischen Iwano-Frankiwsk, lebt die Autorin seit mehr als zehn Jahren in Wien, und seit 2014 schreibt sie auch auf Deutsch.

Wie eindringlich und herzerweichend Maljartschuk erzählen kann, ist auch im Geschichtenband «Von Hasen und anderen Europäern» nachzulesen; lange vergriffen, ist diese Sammlung älterer Erzählungen kürzlich neu aufgelegt worden. Dass sie aber auch eine grosse Essayistin ist, zeigt eindrücklich der jüngst erschienene Sammelband «Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus». So dicht, mit solch sprachlicher Feinheit wie sie nähert sich kaum ein:e andere:r Gegenwartsautor:in der ukrainischen Historie.

In ihren Essays zeigt sich Maljartschuk als forschende Schreiberin oder schreibende Forscherin. Beispiele für diese Schreibweise könnte man zahlreiche anführen. So reflektiert die Autorin darüber, wie schon Juri Andruchowytschs Roman «Karpatenkarneval» (im Original bereits 1992 erschienen) eine stets drohende neuerliche russische Aggression für die Ukraine vorwegnimmt: «Für mich ist das Buch eigentlich kein Buch mehr, sondern eine Epoche. Und so sollte es vielleicht gelesen werden. Wie eine vergnügliche Pause zwischen den finsteren Vorkommnissen. Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus», schreibt Maljartschuk. «Wir lachen, obwohl die Nacht hinter jedem Einzelnen tief und schwarz steht.»

Oder sie beschreibt die Ukraine als eine Patientin, als «Borderlinerin» mit ähnlichen Symptomen wie Menschen mit dieser Persönlichkeitsstörung. Wenn man zudem weiss, dass das aus dem Altostslawischen stammende Wort «ukraina» so viel wie «Grenzgebiet, Militärgrenze» bedeutet, spielt sie hier mit einer Analogie zwischen geografischer Bezeichnung und psychiatrischer Symptomatik: «Seien wir ehrlich, die Schlüsselelemente des Borderlinesyndroms finden sich auch in der ukrainischen Kultur.»

Erzählt werden muss trotzdem

Immer wieder zieht Maljartschuk auch eine Verbindungslinie zwischen persönlichem Erleben und der bis heute vom Nationalsozialismus und vom Stalinismus gezeichneten ukrainischen Gesellschaft. Am 24. Februar 2022 erschien in der «Süddeutschen Zeitung» ein Text von ihr, in dem sie ein Gespräch mit ihrer eigenen Mutter über die Drohgebärden Putins und über Ängste schildert. Das Verhältnis zu ihrer Mutter beschreibt Maljartschuk zum Schluss so: «Es lief nicht immer gut zwischen uns. Gewalttätig ist sie mir gegenüber auch gewesen. […] Sie ist die Schöpfung aus dem, was sie und ihre Eltern erlebt hatten – in dem auf Täter und Opfer aufgeteilten Osteuropa des 20. Jahrhunderts. Bald wissen wir, ob der Weg, den wir heute gehen, zu einer ersehnten Befreiung führt oder doch in ein weiteres Massengrab.» Schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist diese Frage auf bitterste Weise beantwortet. Die Wucht dieser Sätze, die Pointiertheit, das sprachliche und zeitgeschichtliche Gespür, das in ihren Sätzen liegt – all das beeindruckt.

Der Essayband zeigt auch deutlich die Zäsur des 24. Februar 2022 – er lässt sich aufteilen in jene Texte, die davor entstanden sind, und jene, die sie danach schrieb. Nach diesem Datum ist das Erzählen für die Autorin erst einmal unmöglich, aber erzählt werden muss trotzdem: «Wie man über die Unmöglichkeit des Schreibens schreiben kann» heisst ein Text, den sie nach Beginn des russischen Angriffskriegs verfasste. Sie fragt nach dem Wert und den Möglichkeiten der Literatur. Ihre eigene Sprache erkaltet, sie könne nichts mehr lesen ausser Stefan Zweigs «Die Welt von Gestern», schreibt sie in einer Passage. Sie schwenkt zu diesem autobiografischen Werk herüber, das Zweig kurz vor seinem Tod geschrieben hatte, zum Sommer 1914, der darin beschrieben wird und der auch heiss und prall war wie der Sommer 2022 in Wien – und wohl genauso trügerisch und surreal.

Die Zerstörung ihres Heimatlands beobachtet Maljartschuk aus der Distanz der österreichischen Hauptstadt. Sie erfährt davon durch die Bilder aus den Medien, aber sie kann oder will diesen kaum trauen: «Glauben wir ihnen, müssen wir zugeben, dass sich die Welt unwiderruflich verändert hat.»

Traumata sind das grosse Thema von Tanja Maljartschuk. In einem Interview mit der «taz» sagte sie kürzlich: «Man kann zwar eine Weile gut leben, ohne sich zu erinnern. Aber das Trauma kehrt zurück. Das Vergessene und Verdrängte quält einen und schafft neue Probleme. Die Aufgabe von uns Schriftstellern und Intellektuellen ist daher, wenn die Zeit kommt, das Verdrängte ans Tageslicht zu holen.» Es ist das sich jetzt wiederholende ukrainische Trauma, das Maljartschuk literarisch fast verstummen lässt, jedem ihrer Sätze sind das Entsetzen und die Fassungslosigkeit eingeschrieben.

Katastrophen der Vergangenheit

Dabei, das zeigt der Band «Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus», haben die Ukrainerinnen und die Ukrainer noch nicht annähernd die Katastrophen der Vergangenheit aufgearbeitet. Wie man über den Holodomor schreiben kann oder wie es eben nicht möglich ist, über den millionenfachen Hungertod in der Ukraine Anfang der 1930er Jahre zu schreiben, das erörtert Maljartschuk etwa im Text «Warum schreiben Sie nicht über den Holodomor?».

Man kann jede Menge lernen in diesem Band: über den Horror des Stalinismus, über die Trostlosigkeit und die Hoffnungslosigkeit der kommunistischen Ära in der Ukraine, über die immer wieder negierte ukrainische Identität. Vor allem aber geht es Maljartschuk um das Erzählen und das Berichten an sich: sagen, was passiert ist. Die Geschichte aufdecken. Als sie ihre Eltern in einem Gespräch nach den Jüdinnen und Juden sowie dem jüdischen Leben in deren ostgalizischem Heimatdorf fragt, fragen diese zurück: «Was willst du von uns?» Maljartschuk antwortet ihnen: «‹Ihr sollt sprechen›, sage ich. Sprecht, ich schreibe es auf.»

Cover des Buches «Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus».

Tanja Maljartschuk: «Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus». Essays. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2022. 176 Seiten. 23 Franken.

Cover des Buches «Von Hasen und anderen Europäern. Geschichten aus Kiew»

Tanja Maljartschuk: «Von Hasen und anderen Europäern. Geschichten aus Kiew». Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. edition.fotoTAPETA. Berlin 2022. 256 Seiten. 24 Franken.