Zeitgeschichte: Kaskade der Gewalt

Nr. 15 –

Der Journalist Norbert Mappes-Niediek hat die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der Jugoslawienkriege vorgelegt.

Freude über die Ankunft von Nato-Truppen in Gjilan, Kosovo, am 20. Juni 1999
Freude über die Ankunft von Nato-Truppen in Gjilan, Kosovo, am 20. Juni 1999. Foto: Ami Vitale, Getty

Das Buch «Krieg in Europa» beginnt mit jenem Tag, der alles veränderte. In den frühen Morgenstunden rückten die Panzerkolonnen auf die Grenze vor. Bei Tagesanbruch war er da, erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs: ein Krieg auf dem europäischen Kontinent. Natürlich hatte es Spannungen gegeben, doch dass die Situation derart eskalierte, hätte kaum jemand erwartet …

Nein, die neuste Publikation von Norbert Mappes-Niediek, die im November erschienen ist, beschreibt nicht den 24. Februar 2022, den Startschuss des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Sie behandelt Ursachen und Verlauf eines bewaffneten Konflikts, dessen Beginn nun mehr als dreissig Jahre zurückliegt. Dies sei jenen ins Stammbuch geschrieben, die auch hierzulande geschichtsblind behaupteten, erst Wladimir Putins Grossangriff habe eine 77-jährige Friedensperiode auf dem Kontinent beendet.

Der erste Krieg in Europa seit 1945 begann am 26. Juni 1991 mit dem Einmarsch von Einheiten der Jugoslawischen Volksarmee in Slowenien. Die Teilrepublik der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien hatte am Vortag ihre Unabhängigkeit erklärt. Auf den kurzen Kampf um Sloweniens Souveränität folgte eine Kaskade verheerender Kriege, die zuerst Kroatien und ab 1992 auch Bosnien und Herzegowina erfasste, bis im November 1995 die USA die Konfliktparteien zu einem Friedensvertrag zwangen. Die Dekade des gewaltsamen Zerfalls Jugoslawiens endete 1999 mit den Nato-Luftangriffen auf Serbien, nachdem sich 1998 die Kämpfe zwischen serbischen Polizeikräften und albanischen Paramilitärs im Kosovo immer stärker ausgeweitet hatten.

Geschliffene Sprache

Norbert Mappes-Niediek kann in «Krieg in Europa» aus dem Vollen schöpfen. Kaum ein Journalist verfügt über ein derart umfassendes Wissen über die jugoslawischen Nachfolgestaaten, er hat sie drei Jahrzehnte lang an diversen Schauplätzen erforscht. Gekonnt verbindet er eindrückliche Erlebnisse und Erkenntnisse aus zahlreichen Reportagereisen mit Hintergrundwissen aus Literatur und Selbstzeugnissen damaliger Akteur:innen. Mit anekdotischen Details und einer geschliffenen Sprache gelingt es dem in Graz lebenden Autor, die grossen Linien dieses sehr komplexen Konflikts solide und verständlich zu vermitteln. Die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der Jugoslawienkriege stellt auch für ein breites Publikum eine lesenswerte Lektüre dar.

Explizit richtet sich Mappes-Niedieks Buch an die Millionen junger Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, deren Eltern und Grosseltern aus dem heutigen Bosnien und Herzegowina, aus dem Kosovo, aus Kroatien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und Slowenien zugewandert sind, an eine Generation also, die die damaligen Ereignisse fast nur noch aus persönlich gefärbten Familiengeschichten kennt. Denn nicht nur im ehemaligen Jugoslawien bleiben die stark divergierenden Erinnerungen an die kriegerischen neunziger Jahre bis heute eine schwere Hypothek. Über die Migration ist gerade auch die Schweiz eine zutiefst postjugoslawisch geprägte Gesellschaft.

Im Widerspruch zu dieser Nähe wurde der Zerfall Jugoslawiens vor dreissig Jahren gewissermassen aus Raum und Zeit herausgeschrieben. Der Sturz der kommunistischen Regimes in ganz Osteuropa vermittelte damals Zuversicht und Aufbruch. Nur der Vielvölkerstaat auf dem Balkan trat scheinbar eine «historische Geisterfahrt» an. Für Medien und Politik handelte es sich bei den brutalen Nachfolgekriegen um einen geradezu anachronistischen Konflikt, der «nicht zu Europa gehörte». Dabei sei es in Jugoslawien um die Auseinandersetzung mit der Frage gegangen, wie man in multinationalen Gesellschaften zusammenlebe, betont Mappes-Niediek im Gespräch. Wie Menschen unterschiedlicher Herkunft und Prägung mit verschiedenen Identitäten und Loyalitäten eine Gemeinschaft bildeten, sei damals wie heute eine höchst aktuelle Frage für ganz Europa.

Keine falschen Parallelen

Aktuell ist schliesslich auch die Frage, wie der «überforderte Kontinent» sich angesichts eines verbrecherischen Angriffskriegs in Europa verhalten kann. Mappes-Niediek verwahrt sich natürlich gegen falsche Parallelismen zwischen den Jugoslawienkriegen und dem Krieg Russlands gegen die Ukraine. Der aktuelle Konflikt ist anders gelagert und in seinen Dimensionen um ein Vielfaches grösser. Und doch lässt sich eine Kausalkette zwischen dem langen Zögern Europas angesichts der «ethnischen Säuberungen» in Bosnien und der «humanitären Intervention» der Nato im Kosovo in die Gegenwart hinein verlängern. 1999 schufen sich die USA die Grundlage für die Interventionen in Afghanistan und im Irak. Das Putin-Regime zog aus diesem Präzedenzfall bereits 2014 den Schluss, die Souveränität seines Nachbarlandes ungestraft verletzen zu können.

Der Autor präsentiert das Buch am Montag, 17. April 2023, um 18 Uhr in der Schweizerischen Osteuropabibliothek in Bern, am Dienstag, 18. April 2023, um 12 Uhr im Kollegiengebäude der Universität Zürich und am Mittwoch, 19. April 2023, um 19 Uhr im Philosophicum im Ackermannshof in Basel.

Buchcover von «Krieg in Europa»

Norbert Mappes-Niediek: «Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent». Rowohlt Verlag. Berlin 2022. 400 Seiten. 48 Franken.