Migrationspolitik: Dreissig Jahre Ausnahme­zustand

Nr. 16 –

Vor einer Woche rief die italienische Regierung wegen der steigenden Zahl anlandender Fluchtboote im Süden des Landes den Notstand aus. Dieser ist für eine Insel wie Lampedusa schon lange nichts Neues mehr.

Flüchtende warten vor einem Schiff auf den Transfer nach Sizilien von der Insel Lampedusa
Immer mehr Menschen kommen in Lampedusa an, das Auffanglager ist längst überfüllt: Flüchtende warten auf den Transfer nach Sizilien.

Der Polizist deutet auf den parkierten Lastwagen am Hafen. Bis hierhin und nicht weiter, soll das für die Reporter heissen. «Fotografieren ist erlaubt», sagt der Polizist, «Sprechen nicht.»

Vor ihm sitzt eine Gruppe von etwa hundert Menschen zwischen einem Betonpoller und dem Hafengatter auf dem kalten Beton. Es ist früh am Morgen. Die Fähre wird noch eine weitere Stunde auf sich warten lassen. Diese soll an diesem Mittwoch nach Ostern 300 Personen von Lampedusa nach Sizilien transferieren, um den überfüllten Hotspot, wie das Lager auf der Mittelmeerinsel offiziell heisst, schnell zu entlasten.

Ein Segelboot muss retten

Die Behörden wissen, dass trotz der hohen Wellen in diesen Tagen bald noch mehr Boote mit Flüchtenden vor allem aus Tunesien übersetzen werden. Laut dem italienischen Innenministerium kamen bisher in diesem Jahr mit über 31 000 Menschen viermal so viele Flüchtende mit Booten in Italien an wie im gleichen Zeitraum im Jahr zuvor. Allein am Osterwochenende erreichten etwa 2000 Menschen die Insel Lampedusa. Gleichzeitig starben 2023 laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bisher über 441 Menschen auf der zentralen Mittelmeerroute. Das sind so viele Tote wie seit 2017 nicht mehr.

Das Segelschiff Nadir brachte am Osterwochenende 22 Menschen lebend in den Hafen von Lampedusa. «Und zwei Tote hatten wir an Deck», sagt Ingo Werth. Der 63-jährige Norddeutsche ist Skipper der «Nadir». «Wir müssen gleich los auf das Meer», sagt er mit Blick auf die Masten. Die «Nadir» will wieder zur Beobachtungsmission ausfahren, um mögliche Schiffe in Seenot, so gut es geht, zu unterstützen und die italienischen Behörden zu informieren. Klirrend schlagen die Leinen im Wind. Schon jetzt ist die See im Vergleich zu den Tagen davor rauer geworden. Bald sollen die Wellen in der Seenotrettungszone bis zu zwei Meter hoch werden können. «Davor müssen wir wieder zurück sein», sagt Werth.

Erst zwei Tage ist es her, dass die Crew im kleinen Hafen einfuhr. «Es war vier Uhr morgens, als am Ostersonntag der Alarmruf über Funk einging», sagt Werth. «Nadir, Nadir, Nadir», rauschte es immer wieder durch den Hörer. Eigentlich wollte Werth die Crew endlich schlafen lassen. Sie waren seit Tagen unterwegs. Doch dann rief auch die italienische Küstenwache um Hilfe.

Werth rechnete. Sie würden eine Stunde und 15 Minuten zum Unglücksort brauchen. Er weckte die Crew. Schon nach 45 Minuten hörten sie die ersten Stimmen über die Wellen. «Alert», wisperte es. «Help.» Der Wind musste die Gruppe aus dem gekenterten Boot weit auseinandergetrieben haben. Nur jene, die Autoreifenschläuche um Schulter und Taille gebunden hatten, überlebten, sagt Werth.

«Wir schmissen praktisch alles über Bord, was wir hatten, woran sich die Menschen festhalten konnten», sagt Werth. Darunter Rettungswesten und Leinen. In dieser Nacht konnten sie 22 Menschen und einen Toten an Bord hieven. Gegen acht Uhr morgens, mit Kurs auf Lampedusa, kam die Crew am Körper eines Mannes vorbei, der tot in einem Reifenschlauch trieb. Seine Ehefrau sass auf dem Bug des Schiffes; sie hatte überlebt.

Schlachtfeld rechter Politiker:innen

Noch am gleichen Abend, dem 12. April, rief die italienische Regierung den Notstand aus. Dieser soll für sechs Monate gelten und den Regionen im Süden beim Ausbau von Fluchtlagern und bei schnelleren Rückführungen sowie dem Transport von Menschen helfen.

Kurz danach legte die italienische Regierung auch einen Antrag vor, um den Sonderschutz für Asylsuchende im Land deutlich einzuschränken. Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass Erkrankte, die zuvor als schutzbedürftig eingestuft wurden, schneller ausgewiesen werden können, falls die Krankheit im Herkunftsland behandelt werden kann. Die Opposition nannte den ausgerufenen Ausnahmezustand «Propaganda», die von der eigenen Misswirtschaft im Umgang mit der Krise ablenken solle.

In den folgenden Tagen ist vom Ausnahmezustand auf Lampedusa noch wenig zu spüren. Die Strassen wirken in manchen Stunden wie eine ausgestorbene Filmkulisse. Einmal angekommen, werden die Flüchtenden schnell in Bussen zum Hotspot gefahren, aus dem sie bis zu ihrem Transfer nach Sizilien nicht mehr rauskönnen.

Die meisten Inselbewohner:innen bekommen den Ausnahmezustand selbst nur am Fernseher mit. Sie wählten die neue rechte Regierung unter Ministerpräsidentin Georgia Meloni mit grosser Mehrheit. Lampedusa, Knotenpunkt der Flucht und Migration nach Italien, ist in den vergangenen Jahren zu einem politischen Schlachtfeld rechtskonservativer Politiker:innen geworden. Hier stand Matteo Salvini mit Holzkreuzanhänger und weissem, aufgeknöpftem Hemd auf der Bühne vor den Menschen und sagte, dass «Lampedusa nicht das Flüchtlingslager Europas» sei und dass die Italiener:innen mit der Wahl bald ein neues Kapitel aufschlagen würden.

Die Bewohner:innen der Insel messen der aktuellen Ausrufung des Notstands jedenfalls keine grosse Bedeutung bei; für sie ist er schon lange zum Dauerzustand geworden.

Auf dem mit Benzinflecken besprenkelten Boden hinter Constanzo Rossario wälzt sich ein Hund auf dem Rücken in der Sonne. «Wir haben hier seit dreissig Jahren Ausnahmezustand», sagt der Siebzigjährige. Ihm gehört eine der zwei Tankstellen am neuen Hafen. Von den Migrant:innen auf Lampedusa ist schon lange niemand mehr in der Hafenstadt zu sehen. «Jeder sollte sich hier frei bewegen können», sagt Rossario, «die Menschen haben nichts verbrochen.» Es brauche viel mehr legale Fluchtwege, damit das Meer nicht mehr zum «Monster» werden müsse, das Hunderte Menschen das Leben koste.

Die Bewohner:innen der Insel haben derweil noch einen ganz anderen Notstand. Rossario deutet auf die Tafel neben ihm. Für einen Liter Benzin sind heute 2,34 Euro zu zahlen. Das sind etwa fünfzig Cents mehr als in Rom am gleichen Tag. Das liegt vor allem am langen Transportweg, denn das Benzin muss jeden Tag mit der Fähre auf die Insel gebracht werden, die geografisch viel näher an Tunesien liegt als an Sizilien oder dem italienischen Festland. Und auch in der Gesundheitsversorgung, gegen die Löcher in den Strassen und die Verschmutzung der Strände müsste dringend etwas getan werden.

Auf Lampedusa scheint der Notstand eine Sache der Perspektive zu sein. Auch für die Hilfsorganisationen liegt der eigentliche Ausnahmezustand in der Isolation der Menschen in Auffanglagern für Migrant:innen und Flüchtende, die immer mehr an Haftanstalten erinnern.

Kein Loch im Zaun mehr

«Ich frage mich, warum wir den Ausnahmezustand nicht ausrufen, wenn die Menschen im Meer ertrinken, sondern wenn sie lebend in Europa ankommen», sagt Giovanni D’Ambrosio, ein Sozialarbeiter der Organisation Mediterranean Hope. Früher kletterten einige Geflüchtete noch durch ein Loch im Zaun des Lagers – unter Duldung der Behörden –, um in der kleinen Stadt ein bisschen Gemüse oder Tabak zu kaufen, einen Spaziergang zu machen oder sich bei der Hilfsorganisation beraten zu lassen.

Heute ist das nicht mehr möglich. Der Hotspot ist dreifach abgeriegelt: durch Glaswände, eine Stahlmauer und einen Graben rund um den hinteren Teil des Lagers, der wie ein Burggraben aussieht. «Wir lassen diejenigen im Stich, die den Weg überlebt haben, und wissen kaum noch, was im Hotspot passiert», so D’Ambrosio.

Eine Betonstrasse führt zum Lager, das, von vier Militärposten bewacht, in einer Absenkung liegt. «Buongiorno», schreit ein Junge aus dem Fenster über den Graben hinweg. Ein finnisches Fernsehteam kauert am Zaun, um durch die Gitterstäbe zu filmen. Zum Lager selbst hatten schon seit einiger Zeit keine Journalist:innen mehr Zugang.

Am nächsten Abend schüttelt der Soldat am Tor als Antwort auf die Anfrage, zumindest am Zaun entlanggehen zu können, nur noch den Kopf. Er prüft noch die Presseausweise, dann heisst es: «Kein Zugang. Das hier ist ein gefährlicher Militärplatz.»