Flucht übers Mittelmeer: Eskalation der Abschottung

Nr. 40 –

Vor zehn Jahren starben beim damals grössten Schiffbruch vor Lampedusa 366 Migrant:innen. Eine Welle der Solidarität ging durch Europa, doch dann drehte der Wind. Fünf Beobachterinnen des europäischen Grenzregimes erzählen von Etappen seiner Verschärfung.

zurückgelassene Wärmefolie an der Küste von Lampedusa
In der ersten Jahreshälfte 2023 sind mehr als doppelt so viele Geflüchtete auf Lampedusa angekommen wie im Vorjahr: Zurückgelassene Wärmefolie an der Küste. Foto: Helena Lea Manhartsberger
zurückgelassene Wärmefolie an der Küste von Lampedusa
In der ersten Jahreshälfte 2023 sind mehr als doppelt so viele Geflüchtete auf Lampedusa angekommen wie im Vorjahr: Zurückgelassene Wärmefolie an der Küste. Foto: Helena Lea Manhartsberger

Gegen zwei Uhr nachts hört der Motor des alten Lastkahns auf zu rotieren. Am Horizont glitzern die Lichter des Hafens von Lampedusa. «Wir dachten, wir wären angekommen», erzählt einer der 521 Passagier:innen später. Sie sitzen da schon 24 Stunden eng aneinandergedrängt auf dem Boot, das für nicht mal halb so viele Leute ausgelegt ist. Die meisten von ihnen kommen aus Eritrea.

Zu diesem Zeitpunkt läuft bereits Wasser in den Motor, das geht aus Prozessakten hervor, die der WOZ vorliegen. Der Bootsführer schaltet die Maschinen aus. Er hofft, bald von der Küstenwache entdeckt zu werden. Zwei Fischerboote nähern sich dem treibenden Kahn, die Hilferufe der Menschen sind für sie deutlich hörbar, doch drehen sie ab. Um in der Dunkelheit auf sich aufmerksam zu machen, zündet der Bootsführer ein Stück Stoff an. Das Feuer springt aufs Deck über. Panik bricht aus. Binnen weniger Minuten sinkt das Boot.

In einer Bucht hört ein Fischer die Schreie. Als er sein Boot Richtung Meer steuert, eröffnet sich ihm ein Anblick, der ihn bis heute verfolgt: Überall im Wasser treiben Menschen, manche leblos, andere klammern sich an Plastikflaschen und Kanister. Er ruft die Küstenwache. Da ist es schon sieben Uhr morgens. 366 Menschen sterben in diesen frühen Morgenstunden in Sichtweite der italienischen Insel Lampedusa.

«Eine der schwersten Tragödien, die sich in der Strasse von Sizilien in der heutigen Zeit ereignet haben», heisst es später im Prozess gegen die Fischer, die die Hilferufe ignorierten. Sie werden zu sechs, der Bootsführer zu achtzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Die Schuldigen des Unglücks sind gefunden – doch wer trägt die Verantwortung für das Sterben an Europas tödlichster Aussengrenze?

Der Schiffbruch vor Lampedusa ist zehn Jahre her. Er ist längst nicht mehr derjenige mit den meisten Todesopfern im zentralen Mittelmeer. Was erzählen Beobachterinnen, die die Entwicklung des europäischen Grenzregimes beruflich oder aktivistisch aus der Nähe miterleben? Wo sehen sie die Gründe dafür, dass die europäische Migrationspolitik heute mehr denn je vor den Ergebnissen ihres Versagens steht?

Meron Estefanos ist Menschenrechtsaktivistin und Journalistin. Zum Zeitpunkt des Schiffbruchs 2013 beschäftigt sie sich mit den Fluchtrouten von Eritreer:innen; ihre Telefonnummer ist deshalb in der eritreischen Community in ganz Europa bekannt. Plötzlich ist sie mittendrin im Schmerz dieser Tage.

«Am Morgen des 3. Oktober explodierte mein Telefon förmlich vor Anrufen. Eritreer:innen aus ganz Europa meldeten sich: Weisst du, ob mein Sohn auf dem Boot war? Meine Tochter? Meine Tante? Sie schrien ins Telefon, weinten. Ich sass in meiner Küche in Stockholm und versprach zu helfen. Zu dem Zeitpunkt gab es nur die Nachricht: Ein Boot ist vor Lampedusa gesunken, viele Menschen sind gestorben. Es war nicht das erste Mal. Schon zehn Jahre zuvor war mein Onkel im Mittelmeer ertrunken, es gab keine Meldung dazu. Wir erleben seit vielen Jahren, dass unsere Angehörigen im Mittelmeer sterben oder einfach verschwinden. Neu war, dass sich Europa dafür interessierte.

Zwei Wochen nach dem Unglück reiste ich nach Lampedusa, um herauszufinden, wer alles auf dem Boot gewesen war. Ich war nicht die Einzige: Eritreer:innen aus der ganzen Welt waren nach Italien gekommen, um nach ihren Angehörigen zu suchen. Sie weinten, trauerten, schrien vor Schmerz.

Ich reiste gemeinsam mit Vater Mursi, einem eritreischen Pfarrer und bekannten Aktivisten, an. Wir durften das Camp nicht betreten, in dem die Überlebenden untergebracht waren, aber als sie uns sahen, kletterten sie einfach über die Absperrung. Einige von ihnen kannte ich bereits vom Telefon, sie hatten die Foltercamps auf der ägyptischen Sinaihalbinsel überlebt und in meiner Radiosendung davon berichtet.

Sie alle hatten nur einen Wunsch: ihre Angehörigen anzurufen. Ich kaufte dreissig Handys und fünfzig SIM-Karten. Dann fragten sie mich: ‹Kann meine Mutter dir Geld für mich überweisen? Mein Bruder?› Also wurde ich zu einer Art Bank.

Nach dem Unglück kursierte das Gerücht, dass Europa die Fluchtroute schliessen würde, also setzten sich noch mehr Eritreer:innen in die Boote. Ich fragte einige von ihnen: ‹Wie könnt ihr das Risiko eingehen, nachdem gerade so viele Menschen gestorben sind?› Sie sagten: ‹Die Chancen, zu überleben, sind fünfzig Prozent. Was sollen wir tun?›

Bis heute lassen mich die Geschichten nicht los. Ich erinnere mich an Yohanna, sie war 22 Jahre alt, schwanger. Als das Boot sank, kam ihr Kind zur Welt. Beide starben. Oder an Fanus, die mir erzählte, wie sie ins Wasser fiel und um sie herum die Menschen riefen: ‹Ich heisse Tesame, erzählt meinen Eltern, dass ich sie liebe.› Oder: ‹Ich heisse Yonas, erzählt meinen Kindern von mir.› Es waren Nachrichten der Ertrinkenden. Dann sei es um sie herum stiller und stiller geworden.»

Die Bilder der Särge, aufgereiht im Hangar am Flughafen der Touristeninsel, gehen um die Welt. Der damalige Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, sagt während eines Besuchs auf der Insel eine Woche später: «Der Notstand von Lampedusa ist ein europäischer.» Auch die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström beteuert, man wolle nun endlich handeln. Der Besuch der Delegation wird begleitet von lauten Rufen. Die Menschen brüllen «Schande!» und «Mörder!».

Giusi Nicolini
Giusi Nicolini Foto: Helena Lea Manhartsberger

Eine, die in der Zeit um den Jahrestag des Schiffsunglücks kaum schläft, ist Giusi Nicolini, die damalige Bürgermeisterin von Lampedusa. Jedes Jahr in diesen Tagen hat sie viel zu tun. Auf ihrem Terminkalender stehen Führungen, Charity-Veranstaltungen, Treffen mit Überlebenden.

«Nach dem Unglück musste alles gemanagt werden: die Journalist:innen, die Fernsehsender, von denen ich wusste, dass sie wichtig waren. Dieser Moment war die Gelegenheit, Kritik am europäischen Grenzregime auf globaler Bühne zu üben: Die ganze Welt schaute auf Lampedusa.

Politiker:innen kamen, monatelang ging das so. Der damalige Präsident der EU-Kommission, Barroso, kniete vor den Särgen nieder. Er sagte, es dürfe keine Todesfälle auf dem Mittelmeer mehr geben. Damit kamen alle Zeitungen am nächsten Tag raus. Den Satz wiederholte er auf Pressekonferenzen immer wieder.

Die Bilder der aufgereihten Särge haben heftige Emotionen ausgelöst. Der 3. Oktober hätte ein Zusammenrücken bewirken können, zu einem Tempowechsel führen können. Aber aus diesen Treffen, aus den politischen Appellen und Erklärungen ist absolut nichts entstanden. Stattdessen sind wir abgestumpft. Es braucht immer schlimmere Bilder: das blonde tote Kind mit dem roten Hemd am Strand.

Als ich 2014 von Martin Schulz, damals EU-Parlamentspräsident, empfangen wurde, sagte ich, dass ich mich wehren würde und gegen Europa angetreten sei – weil ich mich schämte, wie die Insel wahrgenommen wurde. Lampedusa zeigt nicht nur, wie brutal wir Migrant:innen empfangen – das war das Bild in den Medien. Es zeigt auch, was wir – die Fischer, die Bewohner:innen der Insel – trotz unserer geringen Mittel möglich machen. Es ist möglich für einen kleinen Ort, Erstversorgung zu leisten, obwohl es kein grosses Krankenhaus gibt. Obwohl Wasser, Abfall und Transport ein Problem sind. Dreissig Jahre lang hat diese Insel die Lebenden willkommen geheissen und die Toten geborgen. Der Papst, der nach dem Schiffsunglück hierherkam, hob die geringe Bevölkerungszahl hervor und würdigte, dass wir viel leisteten.

Die Überlebenden blieben lange auf Lampedusa, weil sie verhört werden mussten. Sie wurden im Camp zurückgelassen, wo immer mehr Leute ankamen. Es war überfüllt. Die Überlebenden schliefen auf dem Boden. Darunter Menschen, die unter einem Trauma litten, die verletzt waren. Ich forderte, sie in einem Hotel unterzubringen. Es war Oktober, und es gab nur wenige T­­­­ourist:inne­­­­­n.

Ich habe den Eindruck: Wir leben in Zeiten, in denen wir alle möglichen Gründe finden, um einige Menschen aus unserer goldenen Welt auszuschliessen, die wir für uns selbst gebaut haben.»

Nur fünf Tage nach dem Schiffbruch beschliesst die EU die Gründung einer «Taskforce Mittelmeer» unter der Leitung der EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Die Arbeitsgruppe soll in nur wenigen Monaten das erreichen, was bisher versäumt wurde: eine politische Antwort auf das Sterben im Mittelmeer zu finden. Doch noch bevor die Arbeitsgruppe ein Ergebnis vorlegt, ruft die italienische Regierung einen humanitären Notstand aus und gründet die Rettungsmission Mare Nostrum. Die Schiffe von Küstenwache und Marine patrouillieren in den internationalen Gewässern. Neun Millionen Euro kostet die Mission monatlich, finanziert hauptsächlich aus Italiens Staatskasse.

Die EU beteiligt sich nicht. Denn in dieser Zeit verbreitet sich eine Erzählung, die Rechtspopulist:innen wie Medien aufgreifen: Wer Menschen rette, schaffe Migrationsanreize. Bewahrheitet hat sich diese These nicht: Eine internationale Studie sowie die gleichbleibenden Migrationszahlen legen nahe, dass Menschen die Überfahrt trotz hoher Risiken auf sich nehmen. Im Herbst 2014, nach nur einem Jahr, endet die Mission.

Migrant:innen warten am Hafen von Lampedusa auf die Fähre, die sie nach Sizilien bringt
Migrant:innen warten am Hafen von Lampedusa auf die Fähre, die sie nach Sizilien bringt. Foto: Helena Lea Manhartsberger

Stattdessen überträgt die EU die Zuständigkeit im zentralen Mittelmeer der Grenzschutzagentur Frontex. Deren neue Operation Triton verfolgt ein anderes Ziel: Abschotten statt Retten. Das Budget ist mit 2,9 Millionen Euro monatlich nur noch ein Drittel so hoch wie das des Vorgängerprogramms. Auch die Praxis ist eine andere: Frontex patrouilliert nur noch bis dreissig Meilen vor der Küste. In internationalen Gewässern wird seitens der EU nicht mehr gerettet. Mit verheerenden Folgen: Während unter Mare Nostrum im ersten Jahresquartal knapp fünfzig Menschen bei der Überfahrt ums Leben kamen, sind es ein Jahr später bei gleichbleibenden Ankünften mehr als 1600. Das Mittelmeer wird zur tödlichsten Fluchtroute nach Europa.

Anstatt Menschen zu retten, verfolgen die EU-Mitgliedstaaten nun einen anderen Plan: Sie wollen die Schleusernetzwerke bekämpfen. Italien ändert dafür sogar seine Gesetze. Im Zuge dessen werden auch Seenotrettungsorganisationen und Geflüchtete immer stärker kriminalisiert. Für den Tatbestand der Schlepperei reicht es in Italien unter den neuen Gesetzen zum Beispiel aus, einen Kompass gehalten oder das Boot gesteuert zu haben.

Serena Romano
Serena Romano Foto: Nora Boerding

Serena Romano vertritt als Anwältin auf Sizilien Migrant:innen, denen Schleusertum vorgeworfen wird.

«Als ich mein Jurastudium abschloss, war ich von unserem Justizsystem überzeugt: Wir haben Gesetze, wir wenden sie an, fertig. Dann hatte ich 2015 meinen ersten Fall um einen ‹Schleuser›: Zwei Männer aus Libyen vermissten ihren Bruder. Er sei vor einigen Monaten mit einem Boot geflohen, mehr als 700 Menschen waren an Bord. Kurz vor der italienischen Küste kenterte das Boot. Der Bruder wurde gerettet, aber danach ging der Schrecken erst los.

Mein Mandant wurde direkt nach der Ankunft inhaftiert. Ohne Anwalt zum Zeitpunkt der Festnahme, ohne Übersetzer. Die Zeugenaussagen habe ich später gesehen: Mehrere Menschen sollen im exakt gleichen Wortlaut gesagt haben, dass er der Führer des Boots gewesen sei. Tonaufnahmen gab es davon keine. Die Zeugen waren längst in ganz Europa verteilt. Also habe ich angefangen zu suchen. Und tatsächlich wurden zwei Personen gefunden. Beide haben beim Schiffbruch Kinder verloren, sie hätten also allen Grund gehabt, jemandem die Schuld zu geben. Aber beide waren sich sicher, dass mein Mandant unschuldig war. Er war nicht derjenige, der die Reise organisiert und das Geld einkassiert hatte.

Damals gab es eine juristische Offensive gegen vermeintliche Schlepper. Die Staatsanwaltschaft in Trapani ermittelte sogar gegen Seenotrettungsorganisationen. In diesem Zusammenhang wurde ein Gespräch zwischen mir und einer Journalistin abgehört. Eigentlich ein No-Go. Die Gesetze, die hier angewendet werden, sind die gleichen wie beim Kampf gegen Terrorismus oder die Mafia. Sie geben den Behörden unverhältnismässige Befugnisse, die keiner Kontrolle unterliegen. Für mich hatte der Abhörangriff fatale Folgen: Mandanten hatten Angst, selbst abgehört zu werden; Kolleg:innen waren misstrauisch, und es war sehr schwer, auf diese Art zu arbeiten.

Ich konnte die Unschuld des Mannes aus Libyen beweisen. Auch in zwei weiteren Fällen, an deren Aufrollung ich beteiligt war, hatte das Gericht die Falschen verurteilt. Aber diese Prozesse fressen sehr viele Ressourcen. Es gibt Tausende solcher Fälle. Migrant:innen werden gezwungen, diese Boote zu fahren, oder müssen im Gegenzug für die Überfahrt nicht bezahlen, während die Schleuser selbst gar nicht mitfahren, das ist längst bekannt. Man müsste eigentlich alle Fälle von verurteilten Bootsführern wieder aufrollen. Aber hier geht es nicht um Gerechtigkeit. Das ist Politik, die auf diese Prozesse einwirkt. Im Kampf gegen den Menschenhandel trifft es am Ende die falschen Leute. Diese Erkenntnis hat mich an der ordnungsgemässen Funktionsweise unseres Justizsystems zweifeln lassen.»

Zwischen November 2015 und Dezember 2016 töten Islamisten Hunderte Menschen bei Attentaten in Paris, Brüssel und Berlin. Mehrere Staaten führen Binnengrenzkontrollen im Schengen-Raum ein. Die EU-Institutionen planen in diesen Jahren den Aufbau von sogenannten Smart Borders: digitalen Grenzschleusen und mehreren neuen Migrationsdatenbanken. 2024 sollen sie in Betrieb gehen. Die EU investiert ausserdem in die Forschung zu KI-gesteuerter Grenzüberwachung. «Roborder» etwa ist ein Schwarm aus Robotern und Drohnen, der Menschen in Grenzgebieten aufspürt.

Alyna Smith
Alyna Smith

Alyna Smith ist Leiterin des NGO-Netzwerks Picum, das sich für die Rechte undokumentierter Menschen in Europa einsetzt.

«2009 schrieb die EU-Kommission in einem Bericht, dass die Verknüpfung von Daten aus Migrationsdatenbanken mit denen aus Strafverfolgungsdatenbanken zu grosse Risiken berge. Zehn Jahre später beschloss sie, dass genau das beim neusten Ausbau der Datenbanken erlaubt werden solle.

Die EU verschiebt Stück für Stück den Massstab dafür, was angemessen und richtig ist. Das zeigt sich auch in der Art und Weise, wie sie immer mehr persönliche Daten über Migrant:innen sammelt. Die Vorlage zu den neuen Datenbanken von 2019 verknüpfte Terrorismus mit Migrationsmanagement. Menschen ohne Staatsbürgerschaft werden auf diskriminierende Art und Weise mit einer terroristischen Gefahr in Verbindung gebracht. Die Attacken in Paris und Brüssel wurden als zusätzliches Argument benutzt, um Initiativen zur Überwachung zu stärken und um ‹gefährliche› Menschen zu identifizieren. Deswegen werden auch immer öfter Algorithmen zur ‹Risikoeinschätzung› angewandt. Sie sollen etwa das Risiko vorhersagen, dass eine Person, die einreist, länger als die erlaubte Frist bleiben könnte.

Wer erhält Zugang zu den vielen Daten? Nicht Sozialarbeiter:innen. Sondern Grenzbeamte und Strafverfolgungsbehörden. Es geht darum, Menschen zu überwachen. Aber nicht nur mit dem Sammeln von Fingerabdrücken und Gesichtsbildern. Auch mit Wärmebildkameras an den Landgrenzen. Mit Drohnen auf dem Mittelmeer. Das Ziel dabei ist immer: Migrant:innen abzuschrecken.

Ganz aktuell sehen wir das beim ‹AI Act›, der gerade in der EU debattiert wird und den Einsatz von künstlicher Intelligenz regeln soll. Gemäss dem Vorschlag des Rats soll KI in den Bereichen nationale Sicherheit und Migrationsmanagement weniger streng reguliert werden, damit etwa KI-betriebene Grenztechnologie und Datenauswertung erlaubt bleiben. Die Haltung ist: Menschenrechte gelten, ausser es geht um Sicherheit und Migration.»

Längst geht es Europa nicht mehr nur darum, seine Aussengrenze aufzurüsten. Bereits zu Beginn der 2000er Jahre verfolgte es auf binationaler wie gesamteuropäischer Ebene den Ansatz, durch sogenanntes Migrationsmanagement Fluchtbewegungen zu steuern und eng mit Herkunfts- und Transitstaaten zusammenzuarbeiten. Zielte der «Rabat-Prozess» von 2006 noch auf West- und Nordafrika ab, trafen sich nach dem Schiffsunglück von Lampedusa im November 2014 EU-Minister:innen mit Vertreter:innen von 58 afrikanischen Staaten in Rom, um den «Khartum-Prozess» für das Horn von Afrika auf den Weg zu bringen. «Flüchtlingspolitik darf nicht erst an den Grenzen Deutschlands beginnen», sagte der damalige deutsche Innenminister Thomas de Maizière.

Zunächst vor allem als Dialogplattform gedacht, verwaltet der «Khartum-Prozess» den 2015 geschaffenen European Trust Fund for Africa (EUTF), mit dessen Geldern Fluchtursachen in verschiedenen afrikanischen Ländern bekämpft sowie Grenzschutz- und Antischleuserprogramme finanziert werden. Die Schweiz beteiligt sich mit fünf Millionen Franken daran. Auch Libyen erhält Millionen aus Europa, um Migrant:innen und Geflüchtete an der Überfahrt zu hindern. Trotz mehrfacher Kritik und Berichten über massive Menschenrechtsverletzungen hält Brüssel an der Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwache fest. Erst im März befand ein unabhängiger Expert:innenrat in einem Bericht für die Vereinten Nationen, dass die EU mit ihrer finanziellen wie technischen Unterstützung der libyschen Küstenwache Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit leiste.

Momentan steht vor allem Tunesien im Fokus: Im Juli unterschrieb die EU-Kommission eine Absichtserklärung in Tunis. Eine der fünf Säulen des Deals zielt auf das Thema Migration ab: 105 Millionen Euro stehen für die Bekämpfung von Schleppernetzwerken und sogenannter irregulärer Migration «unter Einhaltung der Menschenrechte» zur Verfügung. Daneben hat Brüssel dem wirtschaftlich angeschlagenen Land bis zu 900 Millionen Euro Finanzhilfe in Aussicht gestellt.

Khawla Ksiksi
Khawla Ksiksi

Khawla Ksiksi ist eine tunesische Aktivistin, Juristin und Gründerin der feministischen Gruppe Voices of Tunisian Black Women, die Schwarze Tunesierinnen sowie Migrantinnen aus dem subsaharischen Afrika unterstützt und miteinander vernetzt. Seit 2021 lebt sie im Exil im Senegal.

«Als ich mitbekam, dass Tunesiens Präsident Kais Saied dem Deal mit der EU zugestimmt hatte, war ich überrascht. Ähnliche Vorschläge aus Europa gab es schon früher. Aber die damalige Regierung hatte sie in einem seltenen Anfall von Souveränität abgelehnt. Ich weiss nicht, ob Saied jetzt aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen dafür war. Aber aus Erfahrung wissen wir: Das Geld wird nicht bei den Bedürftigen ankommen. Es existiert kein politischer Wille, die Ungleichheit im Land zu verringern. Und die Korruption ist nicht verschwunden.

Nachdem wir jahrelang mobilisiert und uns dafür eingesetzt hatten, wurde 2018 ein Gesetz zum Schutz vor rassistischer Diskriminierung verabschiedet. Das Problem ist, dass es nur selten Anwendung findet. Selbst ich, die mehr Privilegien geniesst als andere Schwarze Tunesier:innen, würde keine Vorfälle bei der Polizei melden, aus Sorge, dass der Beamte nichts über das Gesetz weiss und vielleicht selbst rassistisch ist. Wie soll es dann Geflüchteten aus Subsahara-Afrika gehen?

Derzeit verschlimmert sich die Lage: Rassistische Äusserungen des Präsidenten im Februar lösten eine Welle der Gewalt gegen Migrant:innen, Geflüchtete und Schwarze aus. Im Juni, kurz vor Abschluss des Abkommens mit der EU, wurden Migrant:innen in der Wüste ausgesetzt und dem Tod überlassen. Das ist beschämend! Die Zivilgesellschaft hat Angst, was als Nächstes kommt, viele Aktivist:innen werden verfolgt. Und dann ist da die Wirtschaftskrise: 18 000 Tunesier:innen gelangten 2022 irregulär nach Italien. Früher stiegen vor allem Junge verzweifelt in die Boote. Jetzt versuchen Menschen aller Altersklassen und Geschlechter, das Land zu verlassen.»

In der ersten Jahreshälfte 2023 sind mehr als doppelt so viele Geflüchtete auf Lampedusa angekommen wie im Vorjahr – fast 130 000. Mitte September waren über 7000 Menschen im Erstaufnahmezentrum der Insel untergebracht. Es ist eigentlich für 450 ausgelegt.

Ende September reist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Italiens rechtsradikaler Premierministerin Giorgia Meloni auf die Insel, um einen Zehnpunkteplan vorzustellen. Es gelte, einen «humanitären Korridor» zu etablieren. Wie, sagt sie nicht. Der Plan: mehr Überwachung der Route, schnellere Abschiebungen, mehr Geld für Tunesien, damit Menschen gar nicht erst nach Europa kommen. Um Fluchtursachen geht es so wenig wie um die Überlebenden, deren Demo vor der Ankunft der Politikerinnen von der Polizei aufgelöst wird.

Lampedusa scheint in einem Zwischenraum festzuhängen, in dem austauschbare Sprecher:innen die immer gleichen Mantras wiederholen. Die Beileidsbekundungen – damals wie heute – bringen die Toten nicht zurück und den Überlebenden wenig Besserung.

zurückgelassene Wärmefolie an der Küste von Lampedusa
In der ersten Jahreshälfte 2023 sind mehr als doppelt so viele Geflüchtete auf Lampedusa angekommen wie im Vorjahr: Zurückgelassene Wärmefolie an der Küste. Foto: Helena Lea Manhartsberger
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In der ersten Jahreshälfte 2023 sind mehr als doppelt so viele Geflüchtete auf Lampedusa angekommen wie im Vorjahr: Zurückgelassene Wärmefolie an der Küste. Foto: Helena Lea Manhartsberger
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Dieser Artikel wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt.