Şeyda Kurt: «Hass klagt die Gleichgültigkeit an»

Nr. 16 –

Die Schriftstellerin und Journalistin Şeyda Kurt schreibt über politische Gefühle. Nach der «Radikalen Zärtlichkeit» untersucht sie in ihrem neuen Buch das emanzipatorische Potenzial einer durch und durch verpönten Emotion: des Hasses.

Şeyda Kurt sitzt im Freien auf einem Stuhl vor einem grünen Tuch
«Mich interessiert, wie in säkularen Gesellschaften Gerechtigkeit hergestellt werden könnte»: Şeyda Kurt. Foto: Harriet Meyer

WOZ: Frau Kurt, wie oft sind Sie in letzter Zeit gefragt worden, was Sie besonders hassen – und wie sehr hassen Sie diese Frage inzwischen?

Şeyda Kurt: Erst gestern hatte ich ein Radiointerview, in dem das wieder die erste Frage war. Ich verstehe ja, dass sie naheliegend ist, aber irgendwie trifft sie in ihrer Suche nach dem Skandalösen so gar nicht das, worum es mir in meinem Buch geht: nämlich um Hass als zähe Praxis und eben nicht als punktuellen Ausbruch. Doch natürlich gibt es Dinge, bei denen mein Hass unerschöpflich ist, beim Kapitalismus zum Beispiel. Das wiederum wollen dann auch wieder viele nicht hören. Und wenn ich ehrlich antworten würde, ich wüsste gar nicht, wo anfangen und wo aufhören … Also ja, die Frage wird mir im Moment häufig gestellt, und ich finde sie schon recht nervig.

Beginnen wir doch stattdessen so: Es gibt Figuren, die in «Hass» immer wieder auftauchen. Ilja Lunew aus Maxim Gorkis Roman «Drei Menschen» etwa, aber auch ein kleiner Polizist, der in Ihrem inneren Ohr wohnt und vehement nach Bestrafung ruft, wenn Sie sich Hass erlauben. Sie mögen ihn offenkundig nicht. Würden Sie gerne befreiter hassen können?

Interessant, wie Sie die Figur gelesen haben – und ja, auch das passt. Aber beim Schreiben hatte ich etwas anderes im Sinn. Nicht das Bestrafen von Hass, sondern die in mir existierende starke Verbindung von Hass und Strafe, im Sinne von: Etwas, das ich hasse, muss bestraft werden. Ich habe versucht, meinen eigenen Hass vom Impuls der Bestrafung zu entkoppeln. Aber das ist nicht so einfach. Dafür steht der Polizist, der nach Strafe ruft, wenn ich hasse.

Radikale Gefühlsforschung

Şeyda Kurt wurde 1992 geboren und wuchs im Kölner Arbeiter:innenstadtteil Kalk auf. Sie ist Journalistin und Autorin und arbeitet unter anderem für «Zeit Online» und Deutschlandfunk Kultur.

2021 erschien Kurts Buch «Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist» (HarperCollins), in dem sie Liebesnormen im Kapitalismus untersucht. Das Buch wurde zum Bestseller in Deutschland.

Şeyda Kurts zweites Buch «Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls» erschien im März 2023. Darin greift sie auch auf Erfahrungen zurück, die sie als Aktivistin in sozialistischen migrantischen Selbstorganisationen gemacht hat.

Warum wollen Sie denn Hass und Strafe voneinander lösen?

Weil ich das widerständige Potenzial von Hass untersuche. Zugleich gehören Bestrafungslogiken kritisch hinterfragt – sei es in familiären Gefügen oder in Institutionen wie Polizei und Justiz. Daran anknüpfend beschäftigt mich Rache, die die radikalste Spielart des Hasses ist …

Von der Rache behaupten Sie, diese müsse nicht willkürlich sein und mit Selbstjustiz einhergehen – das ist erst mal irritierend.

Ich glaube, es ist generell kontraintuitiv für Menschen, die meine Bücher lesen, dass ich immer wieder betone: Gefühle sind auch Praktiken, zu denen wir uns entscheiden. Zum Hass kann man sich entscheiden, er lässt sich strategisch einsetzen. Mit der Rache verhält es sich ebenso. Sie kann bewusst und mit Vernunft gewählt sein.

Aber das Bild, das wir von ihr haben, ist ein anderes: Der Philosoph Fabian Bernhardt hat gezeigt, wie Rache immer wieder als archaisch-zerstörerische Eigenschaft der anderen dargestellt wird. Diese Vorstellung ist oft verknüpft mit antijüdischen Erzählungen. Auch ich habe in der Schule gelernt, dass der Gott des Ersten Testaments der rachsüchtige, wütende Gott sei und der des Zweiten Testaments ein Gott des Friedens und der Liebe. Bei der Formel «Auge um Auge, Zahn um Zahn», die den Gott des Ersten Testaments charakterisieren soll, geht es aber nicht unbedingt darum, zum Beispiel körperliche Gewalt mit körperlicher Gewalt auszugleichen, sondern um Vergebung, die verdient wird, wie das der Autor Max Czollek mal formuliert hat. Also darum, die Perspektive der Betroffenen, der Menschen, die etwa Gewalt erfahren haben, in den Mittelpunkt zu rücken und zu fragen: Was brauchst du?

Mich interessiert, wie in säkularen Gesellschaften – angelehnt an solche Formen der Rechtsprechung und des Umgangs mit Betroffenen in religiösen Gemeinschaften – Gerechtigkeit hergestellt werden könnte.

Die Zuschreibung als archaisch-zerstörerisch findet sich oft in der Geschichte des Hasses, auch im Zusammenhang mit dem Kolonialismus. Das ist die eine Seite, die andere ist das Nicht-hassen-Dürfen. Worin besteht der Zusammenhang?

Ich unterscheide fünf Modi des Hasses. Dieser ist historisch durch Gleichzeitigkeiten bestimmt und lässt sich daher nie nur auf eine Seite beschränken. Ein Modus ist derjenige der Zuschreibung: Wie ein roter Faden zieht sich durch die Ideengeschichte des Westens, dass kolonisierte, versklavte, unterdrückte Menschen als vermeintlich von Natur aus hassend, als vom Hass zerfressen dargestellt werden. Damit wurden Unterdrückung und Fremdherrschaft begründet.

Dieser erste Modus bedingt den zweiten, den Modus des Nicht-hassen-Dürfens, weil die Menschen, denen diese Zuschreibung aufgedrückt wird, ihr um jeden Preis widersprechen müssen, um nicht gewissermassen die eigene Unmenschlichkeit zu bestätigen. Die französische Philosophin Elsa Dorlin spricht in diesem Zusammenhang von «dirty care», also Fürsorgepraktiken im Zustand der Unterdrückung, Praktiken des blanken Überlebens, bei denen es darum geht, die eigene Haut zu retten. Dieser Modus ist höchst widersprüchlich.

Warum?

Weil sich in «dirty care» die Unterdrückung einerseits sehr stark manifestiert. Um sich selbst zu schützen, müssen die Unterdrückten ihre Unterdrücker aber andererseits auch ganz genau studieren, und das gibt ihnen gleichzeitig ein grosses Wissen: Sie kennen ihre Unterdrücker besser, als es andersrum je denkbar wäre. So eröffnen sich Räume für Widerstand, im kolonialen Kontext etwa für Flucht oder Sabotage. Im besten Fall folgt daraus dann ein weiterer Hassmodus, derjenige der bewussten Entscheidung zum offenen Hass, eine Art Wiederaneignung des Hasses durch unterdrückte Menschen. Das ist, was ich strategischen Hass nenne.

Es gibt noch zwei weitere Modi, mit denen ich mich im Buch aber nur am Rande beschäftigt habe: den politischen Selbsthass, über den der dekoloniale Denker Frantz Fanon geschrieben hat, und natürlich den Hass der Herrschenden, also jenen Hass, der gesät wird, um Unterdrückte zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen.

Wer hasst, kann sich nicht abwenden. In der Verachtung liegt dagegen die Geste des Sich-Abwendens. Darauf hat die Philosophin Hilge Landweer hingewiesen, deren Gedanken Sie aufgreifen. Verachtung ist damit etwas, das eher der Mittelklasse oder der Kapitalistenklasse vorbehalten bleibt. Von unten wird dagegen häufiger gehasst. Hat Hass auch deshalb einen so schlechten Ruf?

Ja, ganz sicher – und was für einen schlechten Ruf! Hass ist derart verpönt, dass er nicht einmal einer eigenen Geschichte würdig zu sein scheint. Und das liegt ganz sicher daran, dass er immer auch den unterdrückten Menschen zugehörig gemacht wurde, die aus herrschender Perspektive ebenfalls keine eigene Geschichte haben sollen.

Hilge Landweer sagt auch, dass Verachtung viel besser in eine neoliberale Gefühlslandschaft passt als Hass. Weil sie neben der Geste des Sich-Abwendens auch die der Gleichgültigkeit beinhaltet: Im Kapitalismus erscheint alles austauschbar, der Lauf der Dinge unveränderbar. Hass dagegen fixiert und ist eine Anklage der Gleichgültigkeit der Gegenwart. Am besten soll er deshalb gar nicht existieren: Er könnte der selbsternannten Zivilisation und dem Status quo ja gefährlich werden.

Was meinen Sie damit, dass Hass fixiert?

Hass fixiert ein Gegenüber, das gehasst wird, einen Feind. Für mich ist das auch ein Unterschied zur Wut: Die Wut kann ohne Adressat bleiben und explodiert. Der Hass fixiert und ist zäh, nagend, lang andauernd. Das Fühlen und Denken in Freund-Feind-Lagern widerspricht dabei dem liberalen Verständnis von Demokratie und Austausch.

Können Sie das anhand eines Beispiels erklären?

Wir sind hier wieder beim Modus des Nicht-hassen-Dürfens. Nehmen wir die Opfer von rassistischer Gewalt. In der Mehrheitsgesellschaft stösst es auf Unverständnis und Unbehagen, wenn solche Menschen wütend sind oder gar hassen. Die Opfer werden nur dann als Opfer anerkannt, wenn sie beweisen, dass sie selbst nicht hassend, nicht aggressiv sind.

In den letzten Jahren ging es beim öffentlichen Reden über Hass ja meist um Rechte, Pegida, Donald Trump und so weiter.

Ja, eben: so als würden und dürften die Opfer beispielsweise von Rassismus nicht hassen. Der Begriff des strategischen Hasses ist auch als Antwort auf Publizist:innen wie Carolin Emcke zu verstehen, die in ihrem Buch «Gegen den Hass» schreibt, der Hass kenne kein Vielleicht, er sei undifferenziert. Als könnte jemand, der hasst, nichts anderes mehr, als hätte sich der Hassende selbst schon abgeschrieben. So ein Quatsch: Natürlich gibt es differenzierten Hass, es gibt auch einen Hass mit Vielleicht, der Hass ist so vielfältig wie die Hassenden selbst.

Hassende Menschen sind handlungsfähige Subjekte, die ihren Hass strategisch einsetzen können, sie laufen nicht wie Zombies, die sich nicht mehr kontrollieren können, durch die Welt. Ich finde es befremdlich, wenn gerade liberale Analytiker:innen, die stets an Emanzipation und die Vernunft des Menschen appellieren, ein Menschenbild offenbaren, in dem der Mensch ganz monolithisch, eindeutig, ohne Ambivalenzen ist.

Aber an einer Stelle hat Carolin Emcke doch recht: Wer hasst, hat sich schon verformen lassen.

Natürlich! Aber was soll man denn machen? Man lässt sich doch ständig verformen. Wie gesagt: Hass ist ja oft eine existenzielle Reaktion, gerade weil du dich nicht abwenden kannst, weil du reagieren musst. Natürlich lässt du dich dann verformen – du bist ja Teil einer sozialen Realität.

Wichtig ist, sich in der Verformung seine Handlungsfähigkeit zu erhalten. Strategischer Hass kann dabei helfen, Menschen aus der Ohnmacht, aus einer Verformung, in der sie nur Objekte sind, herauszuholen. Er kann Antrieb sein, am Ball zu bleiben und das anzugreifen, was uns zermürbt und entfremdet, selbst dann, wenn keine Hoffnung in Sicht ist. Er kann bewusst eingesetzt, gesät, aber auch begraben werden. Und vor allem: Der Hass ist kein «nur», kein Selbstzweck, er kann neben einer grossen Fülle von anderen politischen Emotionen, der Zärtlichkeit etwa, eingesetzt werden, um Menschen zu mobilisieren.

Wie kann denn aus zermürbendem Hass oder Selbsthass strategischer Hass werden? Was ist dafür notwendig?

Gemeinschaft. Durch das Buch hat mich – Sie haben es schon erwähnt – unter anderem Ilja begleitet, eine Figur aus Maxim Gorkis «Drei Menschen». Am Ende habe ich um ihn getrauert wie um einen alten Freund. Es hat mir tatsächlich wehgetan, Ilja auf seinem Weg des Hasses zu begleiten: Dieser Hass endet in der grossen Selbstzerstörung, weil es ihm nicht gelingt, einen Schritt zu gehen, der ihn in die Gemeinschaft führt.

Was hätte ihn dort erwartet?

Ich glaube, dass Strategien immer in Gemeinschaften entstehen. Das ist der Ort, wo Wissen und Erfahrung ausgetauscht werden. Um das zu konkretisieren und Hass zu vermenschlichen, habe ich in der Geschichte gesucht und unterschiedliche Protagonist:innen auf die metaphorische Bühne geholt, die gehasst und ihren Hass strategisch eingesetzt haben. So wie die kurdische Widerstandskämpferin Sakine Cansız, die nach einer Demonstration 1972 mit anderen Frauen zusammensass und meinte: Was könnten wir alles erreichen, wenn wir den Hass auf unseren Feind organisieren würden! Sakine Cansız hat das dann gemacht, sie ist in den bewaffneten Widerstand gegangen und hat die Frauenkader in der PKK aufgebaut.

Warum beschäftigen Sie sich eigentlich so intensiv mit politischen Gefühlen?

Ich will Gefühle politisieren, um Räume für das Handeln und den Widerstand zu eröffnen. In liberalen Gesellschaften gibt es extrem moralisierende Kategorisierungen von Gefühlen: Die Liebe ist das absolut Gute, der Hass das Böse. Als hätten diese Vorstellungen keine Geschichte und nichts mit Herrschaft und Unterdrückung zu tun, als gäbe es die unumstössliche Natur eines Gefühls.

Was kommt nach Liebe und Hass?

Hoffentlich kann ich nach diesem Buch dann in Rente gehen (lacht). Nein, im Ernst: Es gibt noch viele andere politische Gefühle, die ich extrem spannend finde: Demut oder auch Angst. Aber ich glaube, ich bin erst einmal mit diesem Zugang durch. Um Gefühle wird es auch in meinem zukünftigen Schreiben gehen, aber vielleicht in einem anderen Rahmen.

Wie erkennen Sie eigentlich, dass Sie hassen? Wie fühlt es sich bei Ihnen an?

Ich mag das Zischen des Wortes auf den Schlusslauten. Es zieht, wie ein Durchzug. So fühlt sich der Hass für mich an. Und irgendwie hat der Wind auch etwas Beruhigendes.

Buchcover von «Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls»

Şeyda Kurt: «Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls». HarperCollins Verlag. Hamburg 2023. 208 Seiten. 28 Franken.