US-Geschichte: Eine Ikone des Anarchismus
Zu Unrecht vergessen: Lucy Parsons prägte die Arbeiter:innenbewegung in den USA. Eine detailreiche Biografie erinnert an die linke Revolutionärin.
«Sie ist gefährlicher als tausend Randalierer», notierte die Chicagoer Polizei in den 1920er Jahren über sie. Auf Flugblättern und in zahlreichen Artikeln hatte die Schwarze Anarchistin dazu aufgefordert, Sprengstoff als Waffe im politischen Kampf zu verwenden. Zu Lebzeiten war sie eine Ikone der US-Arbeiter:innenbewegung gewesen, heute ist Lucy Parsons (1851–1942) in den Chroniken des Anarchismus weitgehend eine Unbekannte. Wäre da nicht die US-Historikerin Jacqueline Jones, die sich durch Archive gewühlt und bislang unbekannte Quellen erschlossen hat. In der eben ins Deutsche übersetzten Biografie «Göttin der Anarchie» liefert sie einen umfassenden Einblick in das bewegte Leben einer zutiefst widersprüchlichen Persönlichkeit.
1851 noch in die Sklaverei geboren, wuchs Lucy als freie Schwarze im texanischen Waco auf und besuchte in der kurzen Ära der Reconstruction nach dem Bürgerkrieg die Schule, bevor sie den weissen Republikaner Albert Parsons heiratete. Kurz darauf wurden «Mischehen» bereits wieder verboten, die beiden flohen 1873 vor dem Rassismus der Südstaaten nach Chicago. Die Stadt erfuhr damals eine Industrialisierung in Rekordzeit: An jeder Ecke standen laute Fabriken und stinkende Schlachthöfe, überall wurde händeringend nach Arbeiter:innen gesucht. Zahlreiche deutsche Immigrant:innen zog es an die Maschinen und Schlachtbänke, in ihrem Gepäck brachten sie auch anarchistische Theorien und Erfahrungen im Klassenkampf mit. Chicago fand sich bald in einer Zeit von wilden Streiks und Massendemonstrationen wieder, die Parsons mittendrin.
Verbale Brandsätze gegen den Staat
Der grosse Eisenbahnerstreik 1877, bei dem die Polizei 35 Arbeiter erschoss, machte Lucy Parsons zur Anarchistin. Sie gründete zusammen mit anderen eine Frauengewerkschaft, die jedoch bald am Streit zwischen Reformerinnen und Anarchistinnen zerbrach. Darauf widmete sie sich mit ihrem Mann dem Aufbau der Zeitschrift «Alarm», die zum Sprachrohr eines Anarchismus wurde, der Gewalt auf der Strasse propagierte. Die beiden schrieben Artikel, sprachen auf Streikkundgebungen und organisierten Versammlungen und provokante Aktionen. Auf einer Demonstration gegen den Neubau der Chicagoer Handelskammer forderten sie dessen Sprengung, Lucy und ihre Mitkämpferin Lizzie Holmes marschierten in der ersten Reihe mit roter und schwarzer Fahne.
Als 1886 auf einer Demonstration für den Achtstundentag eine Bombe explodierte, wurde Albert Parsons zusammen mit sechs weiteren Anarchisten im Zuge der sogenannten Haymarket-Affäre zum Tod verurteilt und hingerichtet, obwohl sie die Bombe nachweislich nicht gelegt hatten. Lucy engagierte sich weiter, scheute auch inhaltliche Grabenkämpfe in der Bewegung nicht, mit Emma Goldman etwa oder Piotr Kropotkin.
Jacqueline Jones wirft Parsons immer wieder ihre sprachliche Militanz vor, urteilt über ihre Affären und Streitigkeiten, die damals von der Presse nur zu gern aufgegriffen wurden. Die Biografin ist oft so nah an diesen Quellen, dass die Diskussionen um die Anwendung von Gewalt persönliche Auseinandersetzungen zwischen Anarchist:innen bleiben und zu wenig in den politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts verortet sind.
Mit den Wobblies gegen Rassismus
Lucy Parsons sah sich mit ihrer wachsenden Berühmtheit vermehrt mit Fragen nach ihrer Herkunft konfrontiert, weil sie öffentlich insistierte, ihre Eltern seien Indigene aus Mexiko gewesen. Dass sie ihre Wurzeln als Schwarze abstritt, kreidet ihr Jones ebenso an wie den Umstand, dass sich Parsons in ihrem politischen Engagement nie dezidiert auf die Kämpfe um die Gleichberechtigung der Schwarzen in den USA bezogen hat.
Parsons ganzes Interesse galt der Arbeiter:innenklasse. Sie lehnte jede Form bürgerlicher Politik ab – sich für das Stimm- und Wahlrecht für Schwarze zu engagieren, lag ihr deshalb fern. 1905 gründete sie die Gewerkschaft Industrial Workers of the World (Wobblies) mit, die ein syndikalistisches Programm vertrat. Das Besondere an den Wobblies war nicht nur ihre Staatsfeindlichkeit, sondern auch, dass sie sämtliche Arbeiter:innen willkommen hiessen und so zur ersten grossen US-Gewerkschaft wurden, die Schwarze Arbeiter:innen aufnahm. An der US-Westküste gerieten sie deshalb zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Visier des Ku-Klux-Klan, wie der Historiker Mike Davis herausgefunden hat. Lucy Parsons reiste in jener Zeit oft an die Westküste, um die Streikenden dort mit Reden zu unterstützen.
Anfang der 1930er Jahre, als der Fall der «Scottsboro Boys» zu Protestwellen führte, sprach auch Parsons auf einer Kundgebung, zusammen mit der Mutter eines von neun Schwarzen Jugendlichen, die wegen vermeintlicher Vergewaltigung zum Tode verurteilt worden waren. Wenn Jones ihr «eine krasse Gleichgültigkeit» gegenüber dem Rassismus ihrer Zeit vorwirft, stimmt dies so sicher nicht. Antirassismus war für Parsons, genauso wie der Klassenkampf, nur als grosse Bewegung denkbar.
«Göttin der Anarchie» gibt als spannende Biografie Einblick in eine Zeit, in der die Revolution scheinbar vor der Haustür stand. Etwas mehr Sympathie für die Protagonistin hätte ihr gutgetan.
Jacqueline Jones: «Göttin der Anarchie. Leben und Zeit von Lucy Parsons». Aus dem Amerikanischen von Felix Kurz. Edition Nautilus. Hamburg 2023. 448 Seiten. 52 Franken.