Anarchismus: Mit der Anarchie ist es wie mit der Liebe
«Amore, anarchia, subito!» – romantischer kann eine Protestparole kaum sein: Liebe, Anarchie, jetzt sofort! Dabei ist es mit der Anarchie doch wie mit der Liebe: Sie lässt sich nicht erzwingen, egal wie laut die «Subito!»-Rufe auch sein mögen.
Der Wunsch indes besteht schon lange: 1872 haben sich erstmals Anarchist:innen in Saint-Imier zur Antiautoritären Internationale getroffen. Nun, gut 150 Jahre später, findet in der kleinen jurassischen Gemeinde wieder ein anarchistischer Kongress statt. Damals: die Zeit, bevor sich der Anarchismus zur zeitweise grössten revolutionären Arbeiter:innenbewegung entfalten würde. Später: die totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts, die auch so manche Anarchist:innen das Leben kosteten.
Und heute? Viele verbinden die Idee, wenn nicht mit «Chaos» und «Apokalypse», so doch mit einer längst vergangenen Zeit. Einer Zeit, die von grossen wilden Streiks, der Propaganda der Tat, eilig von Hand gedruckten Flugblättern und bärtigen Männern geprägt war. Aber die anarchistische Geschichte hat mehr zu erzählen. Sie besteht nicht nur aus Bakunin, Kropotkin oder Proudhon (und dessen fürchterlich antifeministischen Positionen), nicht nur aus Sacco (ohne Bart) und Vanzetti (mit Schnauz). Und Emma Goldman oder Louise Michel waren nicht die einzigen Anarchistinnen.
Bei den anarchafeministischen Mujeres Libres kämpften über 20 000 Frauen im Spanischen Bürgerkrieg gegen die faschistische Machtübernahme – viele ihrer Namen sind unbekannt. Über die Schwarze Anarchistin Lucy Parsons (1851–1942) ist erst dieses Jahr eine Biografie auf Deutsch erschienen. Und wer kennt die chinesische Anarchafeministin He-Yin Zhen? Sie schrieb bei Anbruch des 20. Jahrhunderts: «Wenn die Mehrheit der Frauen nicht von Männern kontrolliert werden will, warum sollte sie dann von Frauen kontrolliert werden wollen? Anstatt mit den Männern um die Macht zu konkurrieren, sollten Frauen danach streben, die Herrschaft der Männer zu stürzen.»
Die anarchistische Geschichtsschreibung verharrt zwar häufig in einem patriarchalen Weltbild – die anarchistische Idee aber ist nach wie vor emanzipatorisch und revolutionär. Gerade wenn es ums Zusammenspiel von Unterdrückungsmechanismen geht: Intersektionalität ist in der feministischen Theorie längst etabliert – also die Analyse, dass Kapitalismus, Rassismus und Sexismus nicht unabhängig voneinander wirken, sondern verwoben sind und daher zusammen gedacht und dekonstruiert werden müssen. Bemerkenswerterweise, konstatiert die italienische Philosophin Chiara Bottici, werde in all der Literatur, die sich mit Intersektionalität befasse, die anarchafeministische Tradition aber kaum erwähnt. Oder etwas salopper, in den Worten der deutschen Autorin Margarete Stokowski: «Wenn wir die Sache mit der Intersektionalität ernst meinen, steht am Ende die Abschaffung von Herrschaft: Anarchie.»
Neben ihrem Fortbestand in der Theorie überlebt die anarchistische Idee aber vor allem in der Praxis. Während des Arabischen Frühlings 2011, so beschreibt es die anarchistische Autorin Leila al-Shami, sei die antiautoritäre Selbstorganisation hoffnungsvoll gesprossen, bevor sie vielerorts – wie so oft in der Geschichte – unter den Machtansprüchen von Regimes und autoritären Gruppen gewaltsam begraben wurde. Auch in Griechenland waren die zehner Jahre von antiautoritären Protesten geprägt: 2008, als in Athen ein fünfzehnjähriger Anarchist von der Polizei erschossen wurde, und später, als sich die Bevölkerung gegen die EU-Spardiktate wehrte, waren Anarchist:innen Teil von selbstorganisierten Gesundheitszentren, Nachbarschaftsversammlungen, Generalstreiks und Aufständen.
Die anarchistische Föderation Era unterstützt derzeit die feministische Revolution im Iran, nach der Machtübernahme der Taliban 2021 sammelte sie Spenden für die Flucht aus Afghanistan. In Indonesien kämpft das anarchafeministische Kollektiv Needle ’n’ Bitch gegen sexualisierte Gewalt und vernetzt sich mit indigenen Bewegungen. Die anarchistische Idee wirkt in Waldbesetzungen wie jener gegen den Kohleabbau in Lützerath oder gegen die «Cop City» in Atlanta. Sie flammt auf in den erbitterten Protesten gegen tödliche Polizeigewalt – von Minneapolis bis in die Vororte von Paris. Sie steht wie der Slogan «System change not climate change» für radikale Veränderung, wie «Fähren statt Frontex» für eine Welt ohne Grenzen und Stacheldraht.
Damals, heute und morgen lebt die anarchistische Idee überall da, wo Menschen sich selbst organisieren und füreinander einstehen. Überall, wo sie auf Liebe, Fürsorge und Solidarität bauen – statt auf Konkurrenz und Profit für einige wenige. Wo sie sich zusammenschliessen und sich gegen Ungerechtigkeiten wehren. Überall, wo Menschen weder befehlen noch gehorchen wollen und sich Freiheit, Glück und ein gutes Leben für alle wünschen. Die Idee lebt weiter, jetzt sofort.