Erlesene USA (5): Plötzlich ein Horizont
W. E. B. Du Bois’ «Black Reconstruction» ist eine Provokation, als es 1935 erscheint. Heute sind die Überlegungen des Soziologen aktueller denn je.
Schon die Überschrift des ersten Kapitels hat es in sich: «The Black Worker» – als solche bezeichnete W. E. B. Du Bois in seinem Buch «Black Reconstruction» die versklavten Menschen in den USA. Der Soziologe nannte sie so, weil er neben der Leibeigenschaft und der monströsen Unterdrückung auch ihre wirtschaftliche Bedeutung und ihre Handlungsmacht sah. Zudem ging es ihm um das ungenutzte Potenzial der Solidarität. Hätten sich die weissen Arbeiter:innen mit den Schwarzen Arbeiter:innen verbunden, so Du Bois, wäre das System, unter dem beide Gruppen auf sehr verschiedene Weise gelitten hätten, überwindbar gewesen.
«Black Reconstruction» war eine Provokation, als es 1935 erschien. Selten zuvor hat es ein einziges Buch geschafft, so viele dominierende Geschichtsnarrative infrage zu stellen. Die wegweisenden Jahre 1860 bis 1880, also die Zeit kurz vor, während und nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, lassen sich ohne das rund 700 Seiten starke Werk kaum verstehen. Dass der Marxist Du Bois bis heute so viel Resonanz hat, hat allerdings noch einen anderen Grund. Man kann durch seine Analyse nachvollziehen, was auch im Hier und Jetzt der USA fehlt: eine umfassende Demokratisierung der politischen und ökonomischen Strukturen. Man liest ein über neunzig Jahre altes Buch, das sich mit den Geschehnissen des 19. Jahrhunderts beschäftigt, und plötzlich öffnet sich da ein Horizont, eine konkrete Vision.
Beispielloses Experiment
Was genau war Du Bois’ Intervention? Zunächst einmal zeigte er, dass das Ende der Sklaverei nicht der Nächstenliebe von Nordstaatlern zu verdanken war, sondern dass es die Schwarzen selbst gewesen waren, die ihre Befreiung mit einem «Generalstreik» während des Bürgerkriegs herbeigeführt hatten. Hunderttausende flüchteten damals von den Plantagen, viele schlossen sich der Armee des Nordens an, die 1865 schliesslich gegen die Sklav:innenhalterstaaten der Konföderierten den Krieg gewann.
Du Bois veranschaulichte darüber hinaus, dass die darauf folgende Ära der «Reconstruction» kein gesamtgesellschaftliches Versagen war, wie oftmals propagiert, sondern in vieler Hinsicht ein beispielloses sozialdemokratisches Experiment. Die Schwarzen Amerikaner:innen bauten ein neues Bildungssystem mit auf, Sozialprogramme und Institutionen wie das Freedmen’s Bureau wurden gestartet, zahlreiche Schwarze Politiker:innen zogen in den US-Kongress ein. Für einige Jahre sah es so aus, als neige sich der Bogen des moralischen Universums tatsächlich Richtung Gerechtigkeit – Fortschritt, angetrieben von einer «multi racial working class».
Diese kurze Periode der Demokratisierung, die im US-Geschichtsunterricht bis heute vernachlässigt wird, sei jedoch durch eine «Konterrevolution des Eigentums» beendet worden, wie Du Bois im Detail erklärt. Die Eliten des Landes einigten sich darauf, ihre «Industrie des privaten Profits» fortzusetzen. Das Militär des Nordens zog 1877 wieder aus dem Süden ab. Die rassistischen Jim-Crow-Gesetze wurden etabliert. Der Ku-Klux-Klan erreichte unheilvolle Stärke. Und die Arbeiter:innenklasse blieb unten, wobei deren weisser Teil immerhin behaupten konnte, dass es dem Schwarzen Teil noch dreckiger ging.
Man muss Du Bois’ Analyse nicht vollständig teilen, um seine Relevanz für die Gegenwart nachzuvollziehen. Auch heute spielt Rassismus eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, warum so viele weisse prekär Beschäftigte Donald Trump wählen, obwohl dessen Politik vor allem den Reichen hilft. Bis heute sind progressive Bewegungen oft zu dominant weiss. Und bis heute herrscht in den USA eine Plutokratie, die sich kaum mit vorsichtigen Reformen überwinden lässt. Womit aber dann?
Kreativ und widersprüchlich
In den Überlegungen zu einer gesellschaftlichen Transformation beziehen sich US-Linke verstärkt auf Du Bois’ Konzept der «abolition democracy», mit dem er eben jene kreative und zugleich widersprüchliche Gesellschaft in den Jahren direkt nach der Abschaffung («abolition») der Sklaverei meinte. Man hört den Begriff in aktivistischen Kreisen, liest davon in wissenschaftlichen Artikeln. Die Columbia-Universität startete 2021 einen Modelllehrplan unter dem Titel «Racial Justice and Abolition Democracy». Auch Angela Davis’ Arbeit zu diesem Thema wird zunehmend rezipiert. Der abolitionistischen Bewegung geht es dabei insbesondere darum, Alternativen zu Polizei und Gefängnissen zu schaffen. Seit dem Black-Lives-Matter-Aufstand im Sommer 2020, der auf den Mord an George Floyd in Minneapolis folgte, ist das keine reine Nischenangelegenheit mehr.
«Black Reconstruction» hat seine Schwächen – zum Beispiel schliesst Du Bois die indigene Bevölkerung Amerikas weitgehend aus seinem Denken aus, obwohl sich durch das Buch ansonsten eine internationalistische Perspektive zieht. Die Industrie stütze sich auch im 20. Jahrhundert auf die «gekrümmten und gebrochenen Rücken» des «dunklen Proletariats», schrieb Du Bois hinsichtlich der Ressourcengewinnung. So viel hat sich nicht verändert.
W. E. B. Du Bois: «Black Reconstruction in America. Toward a History of the Part Which Black Folk Played in the Attempt to Reconstruct Democracy in America, 1860–1880». Taylor & Francis. London 2013. 686 Seiten. 80 Franken.