Ein Traum der Welt: Pyramide gefällig?
Annette Hug lauert Tourist:innen auf
Die Völkerverständigung ist nicht einfacher geworden. Auf der Fraumünsterbrücke in Zürich ergibt sich kaum ein Gespräch. Das hatte ich mir während der Pandemie anders vorgestellt. Wenn dann die chinesischen Tourist:innen zurückkommen, dachte ich, dann werde ich sie überfallen, wie ich selbst überfallen worden bin auf den Flaniermeilen von Schanghai und Hongkong. Meistens waren es Schüler:innen, die einen Fragebogen für den Englischunterricht ausfüllen mussten, oder Gruppen von Angestellten mit einem Teambildungsauftrag. Dieser bestand darin, Ausländer:innen anzuquatschen und in lustigen Formationen zu filmen, zum Beispiel in einer Menschenpyramide.
Wenn die chinesischen Tourist:innen zurückkommen, dachte ich, dann stehe ich mit einem eigenen Fragebogen bereit. Jetzt muss ich aber feststellen, dass das mit dem Chinesischen in den vergangenen drei Jahren noch heikler geworden ist. Jemanden auf Mandarin, der Standardsprache der Volksrepublik, anzusprechen, kann sehr abschreckend sein. Empört stellen Tourist:innen aus Singapur, Malaysia und Indonesien in stolzem Englisch klar, dass sie keine Chines:innen sind.
Während ich zunehmend scheu hinter meinem Fragebogen hervorlächle, marschiert die tibetische Gemeinschaft der Schweiz die Bahnhofstrasse entlang. Für einmal protestiert sie nicht gegen die chinesische Okkupation, sondern gegen internationale Medien. Diese sollen einen Kuss des Dalai Lama falsch interpretiert haben. «Stop misinterpretation!» steht auf einem Plakat. Wahrscheinlich werde auch ich falsch eingeordnet, als Fundraiserin oder Agitatorin, deshalb sind alle so abweisend. Nur ein philippinisch-amerikanisches Paar plaudert gerne ein Weilchen und gibt ungewollt Hinweise darauf, wie es ein andermal klappen könnte. Ich muss mich für Dienstleistungen anbieten: «Machst du ein Foto von uns? Und wie war das noch mal mit Karl dem Grossen? Machst du auch Führungen?»
Martin Nydegger, Direktor von Schweiz Tourismus, hat 2023 zum «Jahr der asiatischen Touristen» ausgerufen. Vor allem aus Südostasien kämen sie, im Sommer dann auch aus Festlandchina. Wegen der Ansteckungsgefahr allerdings nicht mehr in grossen Gruppen. Die Chines:innen seien anspruchsvoller geworden, sagt Nydegger. Vielleicht müsste ich mich als Geheimtipp anpreisen und mit einem Plakat anschreiben, wie kürzlich am Science-Fiction-Festival Les Intergalactiques in Lyon. Da sassen die Autor:innen zwei Tage lang hinter Bücherstapeln an Tischen, um zu signieren oder um Geschichten anzuhören und die Weltrettung zu besprechen. Die Tische zogen überraschend viele junge Männer an, die sich ungelenk auf einen zubewegten, den Blickkontakt mieden, aber langsam und stotternd das Gespräch suchten. Es konnte passieren, dass nach zehn oder fünfzehn Minuten ein solcher Leser aufblickte, lächelte und sagte, doch, eine Hoffnung habe er noch, «dass es ein Paralleluniversum gibt, in dem wir entscheidende Fehler vermieden haben und deshalb überleben werden».
Aus der Cyberpunk-Atmosphäre von Lyon ist eine gewisse Verzweiflung auf mich übergegangen, sie wird von Nydeggers Hoffnung auf massenhafte Interkontinentalflüge noch befördert. Aber das Gelächter in Schanghai beim Aufbau einer Menschenpyramide war ansteckend. Es fehlt mir jetzt.
Annette Hug ist Autorin in Zürich, sie sucht interkontinentale und intergalaktische Begegnungen.