Ein Traum der Welt: Verliebt in Moskau

Nr. 10 –

Annette Hug reist durchs 20. Jahrhundert

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Einen «Splitter Glück» nannte Klara Blum ihre Zeit mit Zhu Xiangcheng. 1937 waren sie zwölf Monate zusammen. Sie war aus Wien nach Moskau geflohen, ihn hatte die Kommunistische Partei Chinas dorthin entsandt. Worin sein Auftrag genau bestand, erfuhr sie nie. Aber sie hörte, wie er sich auf Deutsch mit ­einem russischen Beamten der Internationalen Arbeiterhilfe zu unterhalten versuchte. Sein Tonfall kam ihr Jiddisch vor. Sie verliebten sich in der U-Bahn: Da standen sie in dichtem Gedränge, aber die Welt schien plötzlich weit, als sie einander in die Augen schauten. So steht es in Klara Blums autobiografischem Roman «Der Hirte und die Weberin».

Schreiben war ein Weg, auf das plötzliche Verschwinden des Geliebten zu antworten. Ein zweiter Weg war radikaler. Blum war überzeugt, Zhu sei von seiner Partei zurückbeordert worden, um den Widerstandskrieg gegen Japan zu unterstützen. Sie vertiefte sich in Bücher über China und schlug sich nach dem Krieg als Dolmetscherin und Bittstellerin über Bukarest, Prag und Paris nach Schanghai durch. In einem «Grimmigen Lebensbericht» schrieb sie 1947: «Ich mache nicht Halt / Im grossen Amoklauf nach Recht und Freude.»

In China arbeitete sie als Deutschlehrerin und änderte zweimal ihren Namen. Weil sie von ihrem Liebsten in Moskau die chinesische Vorliebe für die Pflaumenblüte kennengelernt hatte, nannte sie sich nicht mehr Blum, sondern Plum. Die Pflaumen blühen früh im Jahr. Nicht selten erwischt sie ein letzter Frost, späte Schneeflocken tanzen in der Frühlingsluft mit den weissen Blüten. Sie sind ein Symbol der Widerstandskraft.

Als die Volksbefreiungsarmee siegreich aus der Mandschurei nach Peking zurückmarschierte, reiste ihr die jüdische Immigrantin entgegen. Sie war überzeugt, den Mann wiederzufinden, den sie als ihren Ehemann ausgab. Er fand sich aber nicht unter den Offizieren und Soldaten. Ruhelos schrieb sie ihren Roman fertig und kehrte nach Schanghai zurück, wo sie zuerst Bibliothekarin, dann Deutschprofessorin wurde. Bei ihrem zweiten Namenswechsel übernahm sie den Familiennamen des Geliebten, Zhu. Die Blume rückte in den Vornamen Bailan, was «Weisse Orchidee» bedeutet.

Der Literaturwissenschaftler Adrian Hsia bemerkt, dass es selbst in feudalsten Zeiten nicht üblich war, dass chinesische Frauen den Namen ihres Mannes annahmen. Dass sich Blum nun Zhu nannte, sieht er als radikalen Wechsel der Identität. Bis zu ihrem Tod 1971 blieb sie den jeweiligen Linien der chinesischen Parteiführung treu und schrieb Texte für die DDR-Presse. Berichten, dass ihr Geliebter 1937 Opfer der stalinistischen Säuberungen geworden war, schenkte sie keinen Glauben. Zhu Xiangchengs früher Tod in Sibirien wurde für sie nie Realität.

Adrian Hsia, der 1938 als Xia Ruichun in Chongqing geboren wurde, hat sein Leben als Literaturwissenschaftler dem Austausch zwischen chinesischer und deutscher (und englischer) Literatur gewidmet. Eine Professur erhielt er dafür in Montreal. Für die Bilder, die sich deutsche Schriftsteller:innen von China erschufen, prägte er das Wort «Chinesien»: ein Reich der Vorstellung, das wenig mit jenem China zu tun habe, das Chines:innen erlebten. Dazu habe auch Zhu Bailan, trotz chinesischem Namen, Märchenhaftes beigetragen.

Annette Hug ist Autorin und liest deutsche Texte von Adrian Hsia, zum Beispiel seine Darstellung der Kulturrevolution aus dem Jahr 1970.