Tipp der Woche: Sprachlos vor der Kamera

Nr. 17 –

Foto-Equipment welche vor einer Leinwand mit einer Projektion eines Frauengesichts steht
Foto: Orpheas Emirzas

Es ist der Abend der Wiebke Mollenhauer, dabei hat sie doch fast keinen Text. Sehr lange sitzt die Schauspielerin einfach auf einem Stuhl, seitwärts von uns abgewandt. Angestrahlt von zwei Spots wie bei einem Verhör, blickt sie in die Livekamera. Von der Leinwand auf der Pfauenbühne schaut sie frontal ins Publikum, überlebensgross, in Nahaufnahme. Reglos oder lachend oder heulend, stumm auch dann, wenn sie mal umwerfend lippensynchron zu «Toxic» von Britney Spears mitsingt.

«Reaction shot» heisst das beim Film: Gegenschuss auf eine Figur, um deren Reaktion zu zeigen. In der Inszenierung von Christopher Rüping ist alles an «Gier» auf diesen riesigen «reaction shot» auf der Bühne angelegt. Der Titel des Stücks ist etwas unglücklich aus dem englischen «Crave» übersetzt: Nomen statt aktives Verb, und die nackte «Gier» überschattet das Schillern von Sehnsucht und Begehren, das dich auch ins Grab bringen könnte.
Das Stück der früh verstorbenen Britin Sarah Kane (1971–1999) breitet ein Trümmerfeld der Liebe aus, unbedingt romantisch, aber eben auch toxisch. Der Text ist auf vier Personen verteilt, sie besprechen die Figur vor der Kamera wie eine wehrlose Heiligenfigur, und das Gesicht von Wiebke Mollenhauer erzählt dazu ohne Worte seine eigene Geschichte – bis zu ihrem feuchtfröhlichen Befreiungsakt.

«Gier» in: Zürich Pfauen. Nächste Daten: Sa, 29. April 2023, Mi, 10. Mai 2023, jeweils 20 Uhr; So, 14. Mai 2023, 16 Uhr. www.schauspielhaus.ch