Auf allen Kanälen: In den Fängen
Der Krake hat eine lange Geschichte als antisemitische Chiffre. Doch unter Benjamin Netanjahu ist das Bild auch in Israel im medialen Mainstream angekommen – und breitet sich von dort weiter aus.
Zum traurigen Schicksal mancher Tiere gehört, dass Menschen sie als Symbol für das Böse missbrauchen. Ein solches Geschöpf ist der Krake, der als Metapher benutzt wird, um Ängste vor ominösen Kräften zu schüren – neuerdings etwa als «Datenkrake», wenn es um den Einfluss von Big Tech geht.
In Ungnade fiel der Krake jedoch schon vor mehr als einem Jahrhundert. Bereits 1877 stellte ihn der britische Karikaturist Fred W. Rose auf einer Europakarte als Sinnbild für das expansionshungrige russische Zarenreich dar, das seine riesigen Tentakel über den Kontinent ausbreitet und dabei Polen und das Osmanische Reich abwürgt. Im deutschen Kaiserreich fand das Bild in die politische Publizistik Eingang, bald auch in die antisemitische. In seinem 1890 erschienenen Pamphlet «Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum» schlug der Reichstagsabgeordnete und antijüdische Agitator Hermann Ahlwardt Alarm, dass der «jüdische Oktopus» seine Fangarme in alle lebenswichtigen Sphären der deutschen Gesellschaft strecke.
Die Nationalsozialisten übernahmen die wirkmächtige Metapher für ihre antijüdische Hetze nur allzu gern. Nach der Machtübernahme wurde der Krake in der NS-Propaganda zu einer der bevorzugten Chiffren für das angebliche Streben der Jüd:innen nach Weltherrschaft. Auf einer Karikatur von 1938 schlingt er seine Fangarme schon um die ganze Erdkugel, wobei ihm der nationalsozialistische Zeichner Josef Plank das Konterfei Winston Churchills verpasste, über dem ein Davidstern schwebt.
Alarmistische Töne
Im Kommunismus lebten solche Darstellungen fort, sie wandten sich nun gegen den Zionismus. Von dort gelangten sie auch in die arabischen Medien, die in der Hochzeit des Panarabismus sowjetfreundlich waren. Neben dem Zionismus war es jetzt explizit der israelische Staat, dem arabische Karikaturisten aggressive Expansionsbestrebungen zuschrieben, indem sie ihn als Kraken zeichneten. In Israel, wo man sich dieser judenfeindlichen Bilderwelt samt ihrer NS-Konnotationen stets bewusst war, nahm man in der Regel Abstand von einer hetzerischen Animalisierung der verfeindeten Staaten der Region.
In der Regierungszeit des Likud-Politikers Benjamin Netanjahu wurde mit diesem Tabu gebrochen – vor allem bezüglich des Iran, den Netanjahu regelmässig in alarmistischen Tönen als existenzielle Gefahr für Israel darstellt. Bereits 2012 warnte das israelische Aussenministerium auf seinem arabischsprachigen Twitter-Account vor dem «iranischen Kraken» und seinen «terroristischen Fangarmen». 2018 dann bezeichnete Netanjahus damaliger ultrarechter Bildungsminister Naftali Bennett den Iran als «Kraken», dessen regionale interventionistische «Würgestrategie» Israel immer gefährlicher werde.
Befremdliche Bilder
Dieses Bild haben seitdem nicht nur rechtsgerichtete israelische Medien – wie übrigens auch etliche arabische – verinnerlicht. Es ist in Israel auch im medialen Mainstream angekommen, und das Aussenministerium hat im Netz schon eine Zeichnung gepostet, die den Iran als bedrohlichen Kraken zeigt, der mit der Hisbollah als seinen Tentakeln den Libanon umfängt. Kommentar: «Von der Schweiz des Nahen Ostens zu einer iranischen Kolonie.» Solche Bilder wirken allerdings befremdlich, wenn der Staat Israel gleichzeitig laut vor Antisemitismus warnt und einschlägige Expert:innen dabei gerne auch auf die altbekannte Funktion der Krakenmetapher verweisen. Längst schreiben auch konservative deutsche und Schweizer Medien unbekümmert vom Iran als «Kraken» oder «Oktopus» – besonders auch jene, die in ihrem Kampf gegen Antisemitismus Israel demonstrativ zur Seite stehen.
Bennetts «Oktopusdoktrin» gegen den «Kopf des Kraken» – seine Formel für ein offensives Vorgehen gegen das regionale Machtstreben des Iran – kam nicht nur im Springer-Blatt «Welt» und in deutschen evangelikalen Medien gut an. Die NZZ titelte im Juni 2022: «Israels verdeckter Krieg gegen den iranischen Oktopus», ohne das Wort in Anführungszeichen zu setzen. So verfahren auch proisraelische Medien wie das Schweizer Portal «Audiatur», wo man mittlerweile Israels Existenz gefährdet sieht, wenn es sich nicht «mental und physisch auf einen Krieg» gegen den «Kraken» vorbereite, wie man kürzlich lesen konnte.
Am Samstag schliesslich löschte der britische «Guardian» eine Karikatur mit einem Oktopus von seiner Website, nachdem diese als antisemitisch kritisiert worden war: Sie betraf den Rücktritt des BBC-Vorsitzenden Richard Sharp, eines Juden.