Sachbuch: Antisemitismus der Gebildeten

Nr. 38 –

Der Berliner Antisemitismusstreit von 1879/80 wirkt bis in die Gegenwart nach. Eine neu kommentierte Dokumentation über Entstehung und Wirkung des modernen Judenhasses zeigt das eindrücklich.

Der Urheber des Streits wollte selbst kein Antisemit sein – und förderte den Antisemitismus im Deutschen Reich doch wie kaum ein anderer: Professor Heinrich von Treitschke (1834–1896), Historiker und Publizist.

In den «Preussischen Jahrbüchern», deren Herausgeber er war, platzierte Treitschke im November 1879 seine Agitationsschrift unter dem harmlos klingenden Titel «Unsere Aussichten». Gemeint waren die Aussichten des 1871 gegründeten Deutschen Reichs, und die seien alles andere als gut, sorgte sich der Professor. Denn es drohe «eine schwere Gefahr» – durch die jüdische Minderheit: «Über unsere Ostgrenze […] dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen.»

Hoffnung mache ihm allein «die wunderbare, mächtige Erregung […] in den Tiefen unseres Volkslebens» und insbesondere in der geistigen Elite: «Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf […] ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!» Ob Treitschke den Ausruf, angeblich ein Zitat, selbst erfunden hat oder nicht, ist zweitrangig: Er wurde zum Schlachtruf der gesamten antisemitischen Bewegung, die später «moderner Antisemitismus» genannt wurde – modern, insofern er traditionelle antijüdische Stereotype mit rassenbiologischen und völkisch-nationalistischen Visionen verband. Ab 1926 stand die mörderische Parole auf der Titelseite des Hetzblatts «Der Stürmer», herausgegeben vom NS-Propagandisten Julius Streicher.

Assimilation statt Emanzipation

Für die jüdische Minderheit in Deutschland kam Treitschkes Attacke unerwartet. Denn er war nicht nur Gelehrter, sondern auch Reichstagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei und bisher nicht durch die Forderung aufgefallen, die (ohnehin unvollständige) Emanzipation der Jüd:innen in Deutschland rückgängig zu machen. Das, so beteuerte er, wolle er auch jetzt nicht. Nur sollten sie aufhören, «deutsch redende Orientale» zu sein, sondern vielmehr jenen «einsichtigen Israeliten» folgen, «welche einsahen, dass ihre Stammesgenossen sich den Sitten und Gedanken ihrer christlichen Mitbürger annähern müssen». Assimilation statt Emanzipation – das war der Rat des Professors, der wie viele Antisemit:innen nach ihm seine «jüdischen Freunde» ins Spiel brachte. Diese würden, wie er, den «gefährlichen Geist der Überhebung in jüdischen Kreisen» beklagen.

Aus diesen «Kreisen» allerdings kamen schnell Repliken, unterschiedlich scharf im Ton, aber einig in der Zurückweisung der antisemitischen Attacke. Ihre Namen in Erinnerung zu rufen und ihre Stimmen hörbar zu machen, war das Verdienst von Walter Boehlich, Lektor bei Suhrkamp, der 1965 eine umfangreiche und von ihm selbst kommentierte Dokumentation zum «Berliner Antisemitismusstreit» herausgab.

Nun hat Nicolas Berg im Jüdischen Verlag, einer Suhrkamp-Tochter, eine erweiterte Ausgabe dieses wichtigen Werks herausgegeben und neu kommentiert. «Von der Gewalt der Sprache» ist der letzte Abschnitt seiner Einführung überschrieben: «Viele der antisemitisch geprägten Formulierungen und Codewörter des 20. Jahrhunderts waren von Treitschke geprägt worden», schreibt er dort. So entstand eine «ideologische Zwei-Welten-Theorie», eine nationale Ideologie unvereinbarer Gegensätze «von ‹wir› und ‹sie›, von erwünschter deutscher Einheit und störender jüdischer Minderheit».

Bergs einführende Kommentare zu allen 25 historischen Texten machen die Tragweite der Kontroverse nachvollziehbar. Beispielhaft zeigt das seine Erläuterung zur ersten Erwiderung auf Treitschkes Pamphlet, geschrieben vom Breslauer Rabbiner Manuel Joël. In seinem «Offenen Brief an Herrn Professor Heinrich von Treitschke» habe Joël, so Berg, eine wichtige «Wahrheit über den Antisemitismus» ausgesprochen: «Er war kein Nebenprodukt von eigentlich anderen Absichten, sondern ein absichtsvolles Manöver.»

Erst mehr als ein Jahr nach Treitschkes Attacke meldete sich der erste nichtjüdische Kritiker zu Wort: der Althistoriker Theodor Mommsen (1817–1903), dem 1902 für sein Werk «Römische Geschichte» der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde. Mommsen ist bis heute Treitschkes bekanntester Kontrahent. Daran hat auch Boehlich seinen Anteil: Mommsen habe zumindest «für den Augenblick» über Treitschke gesiegt und damit «den Ausgang des Antisemitismusstreits bestimmt», schrieb Boehlich 1965.

Nicht erwähnt hat er, dass Mommsen den deutschen Jüd:innen die Anpassung an die christliche Mehrheitsgesellschaft empfahl und dass diese «Assimilationsvorleistung» (Berg) für die jüdische Minderheit unannehmbar war. Berg kritisiert das zu Recht, dokumentiert aber als letzten Text Boehlichs Nachwort von 1965 – einer Zeit, als der politische und mediale Mainstream die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft noch als unvorhersehbaren Einbruch der Barbarei in die insgesamt ruhmreiche deutsche Geschichte betrachtete. Die Konsequenzen der judenfeindlichen Hetze, hielt Boehlich dagegen, «hat man schon 1880 gekannt; was nach 1933 geschah, war nicht überraschend, nicht der plötzliche Ausbruch eines unerwartbaren Fiebers».

Boehlichs Einschränkung, dass Mommsen und seine Mitstreiter nur einen vorübergehenden Sieg über den Antisemitismus errangen, ist wichtig. Denn die antisemitische Agitation wirkte fort, und zwar über den Nationalsozialismus hinaus. Im westdeutschen Nachkriegsstaat wurde Treitschke in Schutz genommen: In dessen Denken finde sich allenfalls «ein Minimum an Antisemitismus», meinte damals etwa der renommierte Historiker Martin Broszat. 1960 wurde in München eine Strasse nach Treitschke benannt. Sie heisst noch heute so. Anderswo, auch in Berlin, waren jahrelange Kampagnen aus der Zivilgesellschaft nötig, bis Umbenennungen von Treitschke-Strassen durchgesetzt werden konnten.

Fortleben im Elitendiskurs

Treitschkes antisemitisches Leitmotiv, die Klage über jüdische Anmassung und Macht, findet sich bis heute im deutschen Elitendiskurs – siehe zuletzt die apologetischen Nachrufe auf den Schriftsteller Martin Walser. «Unser Gewissen lassen wir uns nicht von anderen vorschreiben», hatte Walser in seinem Streit mit Ignatz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, proklamiert; Prominente wie der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi oder der «Spiegel»-Herausgeber Rudolf Augstein waren ihm mit ähnlich aggressiv formulierten Wortmeldungen zur Seite gesprungen.

«Wir» (die Deutschen) und «die anderen» (die Jüdinnen und Juden) – dieser Antagonismus findet sich schon bei Treitschke. Wie seine noch lebenden (oder kürzlich verstorbenen) Epigon:innen distanzierte er sich vom «Radauantisemitismus» der Strasse – um einem nicht minder gefährlichen «Universitätsantisemitismus» Argumente zu liefern.

Als «so legendär wie ungelesen» bezeichnete die «Süddeutsche Zeitung» Boehlichs Buch von 1965 aus Anlass der jetzt erschienenen, aktualisierten Neuausgabe. Sie kann gern ohne Legendenstatus auskommen, aber gelesen werden sollte sie: als Dokumentation einer historischen Kontroverse mit Folgen bis heute.

Buchcover von «Der Berliner Antisemitismusstreit»
«Der Berliner Antisemitismusstreit». Eine Textsammlung von Walter Boehlich. Neu herausgegeben von Nicolas Berg. Jüdischer Verlag. Berlin 2023. 543 Seiten. 42 Franken.