Nahostdebatte: Wo liegt die Grenze zur Propaganda?

Nr. 26 –

Seit Kriegsausbruch stehen propalästinensische Gruppen auch in der Schweiz unter kritischer Beobachtung. Weit seltener thematisiert werden der Rassismus und die Ressentiments der konservativen Israelfreund:innen – und ihre problematischen Allianzen.

«Marsch des Lebens» in St. Gallen
Von einer freikirchlichen Allianz organisiert: «Marsch des Lebens» in St. Gallen.

Anfang Juni marschieren rund 250 Menschen durch St. Gallen, ausgestattet mit Nationalflaggen Israels, der USA und der Schweiz. Sie nehmen am «Marsch des Lebens für Israel» teil, tragen ein Banner, auf dem unter dem Schriftzug «Am Israel chai – Das Volk Israel lebt» steht: «Gegen Antisemitismus und in Freundschaft an der Seite Israels». Märsche unter diesem Namen gibt es seit 2007, ursprünglich initiiert von der Freikirche TOS Gemeinde Tübingen. Inzwischen werden sie in zahlreichen Ländern veranstaltet und, wie auch in der Schweiz, von einer freikirchlichen Allianz getragen.

Die Organisator:innen sind Teil der sogenannten Israelwerke, eines Zusammenschlusses missionarischer, freikirchlicher Institutionen. Man wolle der Opfer des Holocaust gedenken und sich mit den Nachkommen von verfolgten Jüd:innen versöhnen, heisst es in den offiziellen Statements der Veranstalter:innen. Beim Umzug durch die St. Galler Altstadt werden Reden gegen das Vergessen gehalten.

Die Gemeinsamkeit der in den Israelwerken zusammengeschlossenen Freikirchen liegt jedoch vor allem darin, dass sie die Bibel wörtlich auslegen und glauben, dass sich «Gottes Volk» wieder im gesamten Heiligen Land ansiedeln müsse, damit der Messias wiederkehre – in einem ungeteilten Jerusalem. Die Israelliebe der St. Galler Demonstrant:innen nährt sich also aus christlichem Eifer, der Jüdinnen und Juden letztlich als unerweckte Christ:innen betrachtet. Und schon gar keinen Platz lässt für Palästinenser:innen und deren Rechte.

Rückhalt im Parlament

Dieses Jahr haben ausser in St. Gallen bereits in Zürich, Payerne, Schaffhausen oder Basel Märsche des Lebens für Israel stattgefunden. Seit Kriegsbeginn steigen die Teilnehmendenzahlen. Auch ins Parlament haben die evangelikalen Israelfreund:innen Verbindungen. So ist mit Hanspeter Büchi einer ihrer Vertreter Generalsekretär der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Israel. Seinen Bundeshauszugang erhält er vom Zürcher EDU-Nationalrat Erich Vontobel.

Büchi hat im christlichen Echad-Verlag zu Israel publiziert und setzt sich gegen eine Zweistaatenlösung im Nahostkonflikt ein. In der 38-köpfigen parlamentarischen Gruppe sitzen grossmehrheitlich SVP-Politiker:innen – deren Israelsolidarität sich vor allem aus islamfeindlichen Reflexen und der Begeisterung für den starken Mann Benjamin Netanjahu speist. Hinzu kommen Vertreter:innen von FDP, Mitte und EDU – sowie als einziges Mitglied der Linken SP-Ständerat Daniel Jositsch (siehe WOZ Nr. 23/17).

Die parlamentarische Gruppe hat sich in der Vergangenheit etwa mit einem Vorstoss hervorgetan, der verlangte, die Schweiz dürfe gewisse anerkannte israelische Menschenrechtsorganisationen wie etwa B’Tselem, Rabbiner für Menschenrechte oder Breaking the Silence nicht mehr unterstützen. Dies nach einem Lobbybesuch der Stiftung NGO-Monitoring, die der israelischen Regierung nahesteht. Auch ein Vorstoss zur sofortigen Streichung der Schweizer Gelder an die UNRWA, das Uno-Hilfswerk für Palästinenser:innen, kommt aus ihren Reihen. Die UNRWA ist gemäss Menschenrechtsexpert:innen die einzige Hilfsorganisation, die im Gazastreifen überhaupt noch handlungsfähig ist.

So kompliziert der Nahostkonflikt ist, so einfach müsste es sein, eine Position zu beziehen, die sich strikt an Gleichheit, Menschenrechten und dem internationalen Recht orientiert (siehe WOZ Nr. 20/24). Linken Gruppen wird seit dem Massaker der Hamas insbesondere von rechtsbürgerlichen Medien in vielen Fällen vorgehalten, diese Werte geopfert zu haben und blind zu sein für die Menschenverachtung der Hamas und den eigenen Antisemitismus. Spätestens wenn Linke die Terrororganisation Hamas zur Befreiungsorganisation verklären, weil es nicht in ihr manichäisches Weltbild passt, dass Unterdrückte auch Täter:innen sein können, ist die Kritik angebracht. Doch so, wie Solidarität mit Palästina in Israelhass und Antisemitismus kippen kann, gilt auf der anderen Seite freilich auch: Die Solidarität mit Israel kann in Palästinahass und antimuslimischen Rassismus kippen.

Das Wording Netanjahus

Die erwähnte Allianz aus Freikirchen und SVP steht innerhalb der proisraelischen Gruppen der Schweiz ganz rechts. So überrascht es kaum, dass Hanspeter Büchi auch schon im Onlinemagazin «Audiatur» Texte publiziert hat, das klar auf Propagandalinie der extrem rechten Netanjahu-Regierung publiziert, indem es etwa ein möglichst «schlagkräftiges» Vorgehen in Rafah fordert oder der Uno israelfeindliche Politik unterstellt.

Doch problematisch wird es bereits bei den konservativ bis freisinnig geprägten proisraelischen Organisationen in der Schweiz, zu denen etwa die Gesellschaft Schweiz-Israel (GSI) zählt.

Die 1957 gegründete GSI setzt sich gemäss Selbstbeschrieb dafür ein, «die freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und Israel zu vertiefen, indem sie der Öffentlichkeit die kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Israel näherbringt». Konkret organisiert die Organisation etwa Vorträge oder Studienreisen nach Israel. Gemäss ihrem Leitbild ist die GSI politisch neutral, doch ist sie heute freisinnig geführt – was sie anschlussfähig an die liberale Mitte und liberalkonservative Medien wie die NZZ macht. Zentralsekretär der GSI ist der ehemalige Zürcher FDP-Politiker Walter L. Blum, Zentralpräsidentin die ehemalige FDP-Nationalrätin Corina Eichenberger-Walther.

Seit Kriegsbeginn fiel die GSI wiederholt mit unkritischen Positionsnahmen für die extrem rechte israelische Regierung auf. Als etwa Karim Ahmad Khan, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, einen Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu beantragte, schrieb die Organisation, es sei «inakzeptabel, dass Israel als demokratischer Rechtsstaat auf die gleiche Stufe gestellt wird wie eine Terrororganisation» – und übernahm damit praktisch direkt das Wording der israelischen Regierung. Bei der Debatte um die Finanzierung des Palästinenser:innenhilfswerks UNRWA begrüsste die GSI den Vorstoss der aussenpolitischen Kommission, die humanitäre Hilfe in Gaza künftig nicht mehr über die UNRWA abzuwickeln.

Walter L. Blum hat, wie ein Bericht des «Tages-Anzeigers» im Mai öffentlich machte, die 2000 GSI-Mitglieder per Rundmail dazu aufgerufen, das «gegnerische Lager systematisch zu beobachten». Gemäss einer Liste, die Blum gleich mitschickte, zählt die GSI dazu nicht nur propalästinensische Organisationen, sondern auch die SRG, die TX Group (vormals Tamedia) oder CH Media, ebenso Universitäten, Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen bis hin zum IKRK und zur Bundesverwaltung. Auch die WOZ ist auf der Liste zu finden.

Dass eine Organisation, die sich freundschaftlich an die Seite der diversen israelischen Bevölkerung stellen will, Menschenrechtsorganisationen und liberale Medien als Gegner:innen betrachtet, ist bemerkenswert. Am Telefon wiegelt Blum zwar ab: Die Formulierung sei unglücklich gewesen, dafür habe man sich längst entschuldigt. Zudem lege die GSI keine Fichen an, wie der «Tages-Anzeiger» insinuiert habe. «Wir lesen einfach alle öffentlichen Verlautbarungen von Organisationen und Medien, die sich in irgendeiner Form mit dem Israel-Palästina-Konflikt beschäftigen.»

Doch im Gespräch bestätigt sich der Eindruck, dass die GSI ihre Solidarität mit Israel als weitgehende Unterstützung der Regierung auslegt. Es gehe seiner Organisation nicht darum, bei Antisemitismus zu intervenieren, sagt Blum, sondern dann, wenn man sich an Aussagen in Bezug auf die israelische Politik störe. Über Asymmetrien des Konflikts will Blum nicht diskutieren. Er sagt stattdessen: Die Hamas habe den Krieg nun einmal begonnen, Israel müsse sich sich verteidigen.

In erster Linie suche man das Gespräch mit den kritisierten Organisationen, sagt Blum. Aber man beschwere sich auch bei Medienmacher:innen, wenn sich die GSI an einem Bericht störe. Als Beispiel nennt er einen Bericht des «Tages-Anzeigers», der den israelischen Verteidigungsminister mit den Worten wiedergab, Palästinenser seien menschliche Tiere. Für Blum eine «unzulässige Interpretation» einer Aussage von Joaw Galant, der kurz nach dem Massaker vom 7. Oktober sagte: «Israel kämpft nun gegen Tiere.» Obwohl er im gleichen Atemzug ankündigte, den gesamten Gazastreifen abzuriegeln, sagt Blum: «Galant meinte nur die Hamas, das mussten wir gegenüber dem ‹Tages-Anzeiger› klarstellen.»

Eine weitere Organisation, die angekündigt hat, «das gegnerische Lager zu beobachten», heisst Never Again Is Now (Nain). Nain wurde nach dem 7. Oktober von den aus Israel stammenden Zürchern Dan Deutsch und Jessie Katz ins Leben gerufen mit dem erklärten Ziel, «über Israel aufzuklären und Antisemitismus vorzubeugen». Nain organisierte in Zürich etwa die Mahnwache nach dem Messerangriff auf einen orthodoxen Juden. Gleichzeitig beobachte man «Personen, die von öffentlichem Interesse sind und fragwürdige Posts veröffentlichen», worüber man sich in gemeinsamen Chats austausche, erklärten sie in einem Interview mit der jüdischen Wochenzeitung «Tachles». 7500 Personen habe man dazu schweizweit mobilisiert. Und man arbeite dafür auch mit den Behörden sowie mit einem israelischen Tech-Start-up zusammen.

Auf Social Media gibt sich Nain betont progressiv. Doch unter queeraktivistische Inhalte und Posts zu den israelischen Geiseln oder Antisemitismus an Schulen mischt sich rechte politische Propaganda: Das Versagen des israelischen Militärs wird verteidigt, Menschenrechtsverletzungen in Gaza werden bestritten, der achtzigjährige Konflikt in einer Videoserie einseitig dargestellt.

Unkritische Nähe

Guy Bollag von der Jüdischen Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina – einer Organisation, die sich sowohl für einen Friedensdialog auf Augenhöhe als auch gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung starkmacht – hält diese Vermischung für äusserst problematisch. Denn wegen ihrer rechtsliberalen Positionierung und der ignorierenden Haltung gegenüber Israels 76 Jahre andauernder Unterdrückungspolitik müsse man befürchten, dass Nain den Antisemitismusvorwurf instrumentalisiere. Die Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken lässt bei der Frage, wann Kritik an Israel antisemitisch ist, viel Interpretationsspielraum. Bollag sagt: «Rechtsgerichtete proisraelische Organisationen benutzen sie, um jegliche Kritik an der israelischen Unterdrückungspolitik als antisemitisch zu delegitimieren.»

GSI und Nain suchen gleichermassen die Nähe zu den christlich-fundamentalistischen Israelfreund:innen. So lud vor zwei Jahren die GSI-Sektion Zürich die parlamentarische Gruppe Schweiz-Israel zu einem Austausch ein. Und beim letzten Marsch des Lebens für Israel in Zürich hielt ein Nain-Vertreter eine Rede. Dazu will sich die Organisation gegenüber der WOZ ebenso wenig äussern wie zu ihrer politischen Ausrichtung oder zu ihrer konkreten Zusammenarbeit mit den Behörden. Sie schreibt stattdessen: «Wir stellen uns der grössten und gewalttätigsten Antisemitismuswelle seit dem Zweiten Weltkrieg entgegen», und: «Gestützt auf Ihre Fragestellungen erwarten wir keine ergebnisoffene Interviewführung und haben uns entschieden, nicht vertieft auf Ihre Fragen einzugehen.»

In den USA stellen die fundamentalen Christ:innen längst eine gewichtige Lobbygruppe für die extrem rechte Netanjahu-Regierung (siehe WOZ Nr. 50/17). Und auch hierzulande scheinen sie zunehmend umworben zu werden: Eine, die seit dem 7. Oktober fast immer an den christlichen Solidaritätsdemonstrationen für Israel dabei ist, ist Ifat Reshef, die israelische Botschafterin in der Schweiz. So auch am Marsch in St. Gallen. In einer flammenden Rede wirbt sie am Ende der Veranstaltung für eine bedingungslose Solidarität mit Netanjahus Krieg in Gaza.