Nasim Eshqi : «Das Regime will niemanden lachen sehen»

Nr. 18 –

Befreiung in den Bergen, aber anders als in der Outdoorwerbung: Die Profikletterin Nasim Eshqi lebt in Italien im Exil und unterwandert am Fels die Unterdrückung durch das iranische Regime.

Portraitfoto von Nasim Eshqi
«Klettern befreit meinen Geist vom Hass, der ununterbrochen von der iranischen Regierung gesät wird»: Nasim Eshqi.

«Früher habe ich Vorträge über Berge gehalten», sagt Nasim Eshqi, doch jetzt nutze sie ihre Bekanntheit, um über die Situation der Frauen im Iran zu reden. Eshqi ist die einzige professionelle Outdoorkletterin aus dem Iran. Sie steht auf der Bühne im ausverkauften Menuhin-Forum in Bern, wo ein Film über sie vorgeführt wird: «Climbing Iran» (2020) der italienischen Regisseurin Francesca Borghetti zeigt nicht nur eine starke Kletterin, die im Iran und in Italien neue Routen einrichtet und in Kursen ihr Können weitergibt, sondern auch eine Frau, die in den Bergen nach Freiheit sucht: Hier nämlich hat Eshqi einen Weg gefunden, die Unterdrückung durch das iranische Regime zu unterwandern. Sie klettert immer ohne Kopftuch und in Seilschaften mit Männern – beides ist im Iran streng verboten.

Nach der Filmvorführung und einem kurzen Gespräch hält Eshqi eine Präsentation über die aktuelle Situation im Iran. «Die Umstände haben sich verändert. Deshalb habe ich mich entschieden, nicht mehr nur Kletterin zu sein, sondern ein Mensch, der sich darum kümmert, was im Iran passiert, und die Welt darüber informiert.»

Zwei Tage zuvor sitzt Nasim Eshqi in hellblauem Hoodie an einem grossen Tisch im Alpinen Museum in Bern. Ihre langen, dunklen Haare hat sie nach hinten gebunden, eine weisse Sonnenbrille steckt darin. Am Handgelenk trägt sie eine pinke Uhr, ihre Fingernägel sind pink lackiert. Sie erklärt, wie das Klettern sie von jeglichem sozialen Druck erlöst: «Es befreit meinen Geist vom Hass, der ununterbrochen von der iranischen Regierung gesät wird.»

Forderung an Sponsoren

Am Tag zuvor war sie klettern im Lehn bei Interlaken, der Fels habe ihr sehr gefallen, doch das Klettern ist für sie nicht mehr dasselbe seit dem Mord an Mahsa «Zhina» Amini durch die iranischen Moralpolizei im letzten September: «Als diese junge Frau getötet wurde, fragte ich mich: Warum klettere ich? Warum bin ich überhaupt noch am Leben?» Es habe sich angefühlt, als ob sie selber mit Amini gestorben wäre. «Tatsächlich war ich auch schon in derselben Situation wie Mahsa, ich sass im gleichen Van und war auf derselben Polizeistation.»

So viele Mädchen und Frauen hätten dies erlebt. Viele seien depressiv geworden, einige hätten sich das Leben genommen, andere das Land verlassen. Auch Eshqi wird in nächster Zeit nicht zurückkehren. Sie war gerade in Italien am Klettern, als die Proteste ausbrachen – worauf sie sich entschied, in dem Land zu bleiben. Kein leichter Entscheid, doch zurückzugehen wäre zu gefährlich, sie könnte bereits am Flughafen festgenommen werden.

Von Italien aus begann die 41-Jährige, ständig über die Ereignisse in ihrer Heimat zu informieren: «Ich spürte, dass ich nicht schweigen kann, dass ich im Ausland Bewusstsein schaffen muss», sagt sie. Seither postet sie täglich Infos auf ihren sozialen Kanälen: über die verhafteten Protestierenden, die zum Tode Verurteilten, die Giftattacken auf Mädchenschulen. Sie spricht mit Medien, und sie kontaktierte Outdoor- und Sponsoringfirmen wie Patagonia, Red Bull oder Petzl mit der Aufforderung, über die Situation im Iran zu berichten: «Diese Firmen zelebrieren die Outdoorwelt als eine Welt der Freiheit und brüsten sich damit, dass sie Frauen fördern. Ich sagte ihnen: ‹Jetzt ist der Moment, in dem ihr euch wirklich für Frauen und deren Recht einsetzen könnt.›»

Schliesslich gelangte sie an ihre eigenen Sponsoren, die Outdoorproduktehersteller Rab und DMM, und verlangte, dass sie auf ihren Plattformen über sie und die Revolution im Iran berichten. Als diese antworteten, sie wollten sich nicht in politische Themen einmischen, konterte Eshqi: «Es geht nicht um Politik, es geht um Menschenrechte.» Rab willigte schliesslich ein und unterstützte ihre Aktivitäten, DMM sei stur geblieben mit dem Argument, man könnte die Kunden verärgern.

Eshqi schüttelt ungläubig den Kopf: «‹Wer sind eure Kunden?›, fragte ich sie, ‹Faschisten? Diktatoren?›» Sie lacht auf: «Ja, ich redete streng mit ihnen.» Schliesslich löste sie die Zusammenarbeit auf. Sie könne nicht mit einer Marke arbeiten, die schweige, während im Iran Mädchen ermordet würden aus dem einzigen Grund, weil sie ihr Recht auf ein freies Leben einforderten.

Kickboxmeisterin

Zum Klettern kam Eshqi, die in Teheran Sportwissenschaften studiert hat, eher zufällig und erst mit 23 Jahren: Bei einer Wanderung in den Bergen traf sie auf eine Klettergruppe, die sie motivierte, den Sport auszuprobieren. Zuvor hatte sie sich als Kickboxerin einen Namen gemacht, mehrmals war sie iranische Meisterin. Dass sie erfolgreiche Kickboxerin war, hielt sie vor ihrer Familie geheim, die Pokale versteckte sie. Um an internationalen Wettkämpfen teilnehmen zu dürfen, hätte sie ihre Haare während der Veranstaltungen bedecken müssen. Da hörte sie auf: Sie wollte nicht Werbeträgerin des iranischen Regimes sein.

Der Sport war für sie stets ein Ventil für ihre Wut: «Ich hasste es, ein Mädchen zu sein, ich war immer zu laut, zu wild, zu farbig, zu stark.» Der Sport habe sie gerettet – obwohl Sport für Mädchen im Iran nicht gefördert werde. Auch die Bildung habe ihr geholfen: Erst an der Uni sei ihr bewusst geworden, dass nicht ihr Geschlecht das Problem sei, sondern das Regime. Und dass sie nicht zwingend ein Mann oder männlich sein müsse, um sportlich, stark und erfolgreich sein zu können. Sie zeigt auf ihre Fingernägel: «Um meine Weiblichkeit zu betonen, habe ich immer die Fingernägel lackiert – auch beim Klettern.»

An der Uni probierte sie unterschiedlichste Sportarten aus: Volleyball, Siebenkampf, Aerobic, Schiessen. Doch als sie das Klettern entdeckt habe, habe sie sich sofort in die Sportart verliebt und mit allem anderen aufgehört. «Diese Kombination aus dem Gefühl der grenzenlosen Freiheit in den Bergen und der Herausforderung an der Wand, das fasziniert mich.» Da die Berge kaum im Fokus des Regimes waren, konnte sie dort tun, was in der Stadt unmöglich war, wie im Top und ohne Kopftuch klettern – und sich dabei sogar filmen lassen. Doch einen Film wie «Climbing Iran» zu drehen, wäre heute nicht mehr möglich. Seit dem Ausbruch der Revolution kontrolliere das Regime sowohl die Berge als auch die Outdoorcommunity, sagt Eshqi.

«Mutig und grenzenlos»

Dass Klettern ein Sport ohne Gegner:in ist, hat Eshqi von Anfang an fasziniert: «Es gibt nur dich und den Fels. Ausserdem zieht die Schwerkraft alle gleich nach unten, egal ob du ein Mann oder eine Frau bist.» Entscheidend seien Technik, Balance und Koordination – und dann gebe es noch den Rhythmus, ja sogar eine Melodie beim Klettern.

Überhaupt ist Musik sehr wichtig für Eshqi: «Alles, auch die Natur, ist voll davon: das Rauschen der Flüsse, das Prasseln des Regens, die singenden Vögel.» Ein gutes Lied zu hören, ist für sie in bestimmten Momenten entscheidend: «Es kann deine schlechte Stimmung in gute verwandeln.» Genau deswegen fürchte das Regime die tanzenden und singenden Menschen. Musik sei, wie alles, was das Herz öffne, für das Regime eine Gefahr: «Das Regime will niemanden lachen sehen. Es will, dass sich niemand geliebt fühlt oder jemanden liebt. Die Ajatollahs haben eine Religion des Hasses gegründet, auf der das Regime gebaut ist.»

Doch das Regime werde bald gestürzt, ist sie überzeugt: «Diese jungen Menschen sind so mutig und grenzenlos. Sie kümmern sich nicht um Traditionen und Kultur.» Und klar, alle hätten Angst vor den Konsequenzen ihres Handelns, «doch der Grad der Unterdrückung ist mittlerweile so hoch, dass es keinen grossen Unterschied mehr gibt zwischen diesem Leben und den körperlichen Strafen, die einem drohen».

Am nächsten Tag wird Eshqi in der Nähe von Bern klettern gehen und zwei Tage später vor über 400 Menschen stehen und sagen: «Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal über etwas anderes als das Klettern sprechen würde. Aber es geht um Menschenrechte – und da kann ich nicht schweigen.»