Aufstand im Iran: Der verbindende Faden

Nr. 40 –

Seit Jahrzehnten protestieren die Menschen gegen die harte Hand des Regimes in der Islamischen Republik. Was diesmal anders ist: Die Befreiung der Frauen gilt nicht mehr als zweitrangig.

Strassenblockade gegen das Regime in Teheran
Strassenblockade in Teheran. Studentinnen, Lehrer, konservative Frauenorganisationen und Gewerkschaften protestieren gemeinsam gegen das Regime. Foto: Keystone

Der Informationsfluss bleibt stark eingeschränkt, aber die Bilder und Videos, die weiterhin den Weg aus dem Iran an die Weltöffentlichkeit finden, machen deutlich: Die landesweiten Proteste gegen das Regime halten an. Obwohl die Sicherheitskräfte seit Beginn des Aufstands vor drei Wochen laut Berichten bereits mehr als 130 Menschen getötet haben, bringen Tausende weiterhin den Mut auf, sich ihnen in den Weg zu stellen. Es geht langsam, aber sicher um alles oder nichts – aufseiten der Protestierenden genauso wie aufseiten der Machthaber. Parlamentssprecher Mohammad Bagher Ghalibaf, einstiger Bürgermeister der Hauptstadt Teheran, wies den Sicherheitsapparat zur Härte im Umgang mit den Demonstrierenden an, die mittlerweile eine Gefahr für die Stabilität der Islamischen Republik darstellen.

Kurdische Formel

Am Ursprung der aktuellen Proteste steht der Tod der 22-jährigen Mahsa «Zhina» Amini Mitte September. In Gewahrsam der Moralpolizei ist sie mutmasslich zu Tode geprügelt worden, nachdem sie den vorgeschriebenen Hidschab nicht ordnungsgemäss getragen hatte. Die Beerdigung Aminis in ihrer Heimatstadt Saqqez in der Provinz Kurdistan ganz im Westen des Iran nahm die Form eines Protestakts gegen die Unterdrückung der Frauen durch das klerikale Regime an. Und von dort sprang der Funke zunächst auf die ganze Region, dann aufs ganze Land über – und zwar in Form des Slogans «Frau, Leben, Freiheit». Er stammt aus der kurdischen Freiheitsbewegung («Jin, Jiyan, Azadî») und ist das Motto der YPJ, der Frauenverteidigungseinheiten der kurdischen Milizen im Nordosten Syriens. Eine Interpretationsform lautet etwa: Es kann keine Freiheit geben, solange die Frauen nicht frei sind.

Für die Proteste ist der Ursprung im marginalisierten kurdischen Teil des Iran von zentraler Bedeutung, denn die Ermordung Aminis hat in dieser Region aufgrund der ethnischen Diskriminierung eine besonders tief sitzende Wut freigesetzt. Umso bemerkenswerter ist, dass sich der feministische Aufstand – getragen von Frauen wie Männern – unter diesem Slogan so rasch auf die restlichen Landesteile übertragen hat. Anstatt einen kurdisch-nationalistischen Ton anzunehmen, wurde er zum vereinten Kampf gegen den Kopftuchzwang.

Und unter diesem gemeinsamen Nenner noch zu viel mehr: «Der Hidschab ist zum Symbol für all die verschiedenen Formen der Unterdrückung im Iran geworden», erklärte Manijeh Nasrabadi, Professorin für Frauen-, Geschlechter- und Sexualstudien am Barnard College der US-amerikanischen Columbia University letzte Woche in einer Expertinnenrunde der internationalen Fachzeitschrift «Jadaliyya». Das Kopftuch steht also für staatliche Gewalt, für Kontrolle und Überwachung im Allgemeinen.

Die iranische Bevölkerung hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder und teils in Massen gegen das Regime aufgelehnt. Allein in diesem Jahr wurden Hunderte Proteste registriert. Nun habe die Ermordung Mahsa «Zhina» Aminis die Verknüpfung einer kleinen kurdischen Provinzstadt nahe der irakischen Grenze mit grossen urbanen Zentren des Iran hervorgebracht, sagte die Anthropologin Foroogh Farhang von der US-amerikanischen Northwestern University in derselben Expertinnenrunde: «Mahsa Amini ist der Faden, der Generationen von Frauen, die ähnliche Probleme durchmachen, miteinander verbindet – und zeitgleich auch Generationen von Männern sowie verschiedene ethnische Minderheiten und religiöse und nichtreligiöse Gruppen.» Dazu gehören progressive Studentinnenorganisationen, Lehrervereinigungen, Gruppen, die sich für die Rechte von Minderheiten einsetzen, genauso wie konservative Frauenorganisationen und Gewerkschaften. Sie alle sind Teil der Protestbewegung. Der Aufstand müsse deswegen im grösseren politischen und sozioökonomischen Kontext verstanden werden, so Farhang.

Der Iran war in den letzten Jahren von der Covid-Pandemie und den westlichen Sanktionen stark betroffen, in deren Folge ein grosser Teil der Bevölkerung verarmte. Die Klimakrise und die damit verbundene Wasserknappheit, mehrere aufgedeckte staatliche Korruptionsfälle und die Wahl von Ebrahim Raisi zum Präsidenten im August 2021 förderten den Unmut: Raisi hat seither eine Islamisierungskampagne gestartet, im Zuge derer Gewalt und Repression gegen Frauen durch die Moralpolizei stark zunahmen. Die seit Jahren schwelende Unzufriedenheit und die damit verbundenen Forderungen diverser Gruppen haben sich nun an Aminis Tod und der Frage der körperlichen Selbstbestimmtheit entzündet.

Mehr als nur Symbolik

Die Frauen im Iran kämpfen schon seit Jahrzehnten für ihre Rechte, gegen Unterdrückung und Kopftuchzwang. Was den aktuellen Aufstand einzigartig macht: Wurden ihre Forderungen von früheren Protestbewegungen noch als zweitrangig abgetan, stehen sie heute im Zentrum. «Es sind Frauen und Männer gemeinsam auf der Strasse. Aber die lautesten sind die Frauen», fasste es die Journalistin Natalie Amiri letzte Woche in einem Gespräch mit dem Radiosender SWR 2 zusammen. «Sie reissen sich das Kopftuch vom Kopf, unter frenetischem Beifall von Männern, von Frauen, und sie verbrennen ihre Kopftücher. Sie widersetzen sich der Sittenpolizei, die sie mehr als vierzig Jahre lang diskriminiert hat.» Und trotz dieser symbolhaften Handlungen dürfe man die Proteste gleichzeitig nicht darauf reduzieren. «Jeder ist auf der Strasse aus einem eigenen Beweggrund», so Amiri. Es gehe letztlich also gar nicht ums Kopftuch als solches, sondern: «Es geht um das grosse Ganze.»