Zweiter Weltkrieg: Am Fluss der Erinnerung
Bisweilen passiert es, dass Randgebiete zum Mittelpunkt des Weltgeschehens werden. So war es auch mit dem St. Galler Rheintal vor dem Zweiten Weltkrieg. Jüdinnen und Juden auf der Flucht vor der NS-Verfolgung versuchten hier auf Schleichwegen, den Grenzfluss zu überqueren. Dank des Muts des St. Galler Polizeihauptmanns Paul Grüninger und weiterer Fluchthelfer:innen wurden Hunderte gerettet.
Endlich nun hat der Bundesrat beschlossen, Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus zu schaffen. In der Hauptstadt Bern soll ein Mahnmal errichtet werden, die Vermittlung der Geschichte aber mit einer Ausstellung im St. Galler Rheintal erfolgen. Die Grenze ist dafür der richtige Ort: Die Schweiz konnte sich zwar als Demokratie durch den Krieg retten, das grösste Versagen im 20. Jahrhundert bleibt aber ihre antisemitisch begründete Flüchtlingspolitik. Mehr als 20 000 Jüdinnen und Juden und andere Flüchtende wurden wegen der vom Bundesrat erlassenen Grenzsperre und dem Judenstempel in den sicheren Tod geschickt.
Das Ausstellungsprojekt im Rheintal, das auch von der St. Galler Regierung unterstützt wird und vom Jüdischen Museum Hohenems in Vorarlberg realisiert werden soll, kann nun eine transnationale Erinnerungsarbeit ermöglichen. Dabei lassen sich auch Lehren für die Gegenwart ziehen. Denn ob damals am Rhein oder heute am Evros zwischen der Türkei und Griechenland oder am Rio Grande zwischen Mexiko und den USA: Stets zeigt sich an den Grenzflüssen, an den Rändern der Staaten, an ihrem gegenseitigen Übergang, wie viel humanitäre Versprechungen tatsächlich wert sind – und ob es Menschen gibt, die sich für sie starkmachen, auch gegen die eigene Regierung.
So positiv die Wahl der Erinnerungsorte, so mager sind die Finanzen, die der Bundesrat gesprochen hat: 2,5 Millionen Franken. Das ist höchstens ein Projektierungskredit. Wenn sich die Regierung nicht erneut den Vorwurf gefallen lassen will, sie wolle sich mit der Vergangenheit nicht recht auseinandersetzen, muss da noch deutlich mehr kommen.