Lego: Das Imperium der Steine
Der Spielwarenhersteller Lego hat sich zu einem multimedialen Unterhaltungskonzern entwickelt. Heute ist er einer der weltweit wichtigsten Produzenten populärer Kultur, befeuert die Kommerzialisierung von Kinderzimmern – und hat auch immer mehr erwachsene Fans.
Lego ist überall, sogar in der Philosophie. 2017 veröffentlichte der italienische Autor Tommaso Wayne Bertolotti den Essay «Legosofia. Apologia filosofica del Lego», in dem er die Spielwaren des dänischen Herstellers durch die philosophische Brille begutachtet. Bertolotti spürt etwa in der Lego-Themenwelt «City» Motiven von Platons Idealstaat nach, während ihn die Bausteine an die Atomlehre erinnern: Besteht nicht auch die Welt im Ganzen aus kleinsten Bauteilen, die miteinander zu Grösserem kombiniert werden? Überhaupt sei Lego ein genuin philosophisches Spielzeug, das einerseits methodisches Vorgehen verlange, andererseits die kreative Freiheit der Bastelnden herausfordere.
Weniger erhaben ist das, was sich unter dem Schlagwort «Lego porn» im Internet findet: Kurzclips von Amateurfilmemacher:innen, die die Lego-Minifiguren mittels Stop-Motion-Technik bei erotischen Begegnungen inszenieren und das Ergebnis auf Videoplattformen veröffentlichen. Dabei handelt es sich vor allem um eine Netzkuriosität. Es veranschaulicht aber genauso wie der über die Bausteine meditierende Philosoph die Breite des Phänomens Lego.
Das Unternehmen zählt heute zu den drei grössten Spielzeugherstellern der Welt mit international über 800 Lego-Stores. Und Lego produziert längst nicht mehr nur simple Plastikklötze, sondern verkauft Spielsets der global zugkräftigsten Marken: «Star Wars», «Harry Potter», «Herr der Ringe» oder jüngst auch «Indiana Jones». Es gibt Lego-Kinofilme und -Serien, Lego-Videogames, Lego-Freizeitparks und Lego-Fan-Conventions. «Angesichts der Allgegenwart, der Vielfalt und der Reichweite der von Lego geschaffenen kulturellen Artefakte hat sich das Unternehmen zu einem bedeutenden und mächtigen Produzenten von Kultur entwickelt», schreiben die beiden Kulturwissenschaftlerinnen Rebecca C. Hains und Sharon R. Mazzarella in einem kurz vor der Pandemie veröffentlichten Sammelband.
Noch vor zwanzig Jahren wäre dieser Siegeszug kaum vorstellbar gewesen. Zwar kürte das US-Magazin «Fortune» Lego zur Jahrtausendwende zum «toy of the century», doch bald darauf drohte der Konkurs: Allein 2003 machte Lego fast 200 Millionen Euro Verlust. Es sah aus, als stünde das drei Generationen lang prosperierende Familienunternehmen vor dem Ende.
Lego war 1932 vom Schreiner Ole Kirk Kristiansen im dänischen Städtchen Billund gegründet worden. Kristiansens Nachkommen gehört die Lego Group bis heute, auch deren Zentrale steht immer noch in Südjütland. Der Firmenname ist ein Kofferwort aus dem Dänischen «leg godt»: Spiel gut. Am Anfang der mit der Wortschöpfung verknüpften Erfolgsstory stand allerdings die wirtschaftliche Not: In der Grossen Depression in den Dreissigern sah sich Kristiansen, der Möbel geschreinert hatte, genötigt, seine Produktion zu verkleinern und Holzreste zu Spielzeug – etwa Modellautos oder Sparschweinen – zu verarbeiten.
Die eigentliche Lego-Geschichte begann allerdings erst 1949, als die Firma Plastikbausteine einführte – Lego-typisch waren die Quader oben mit Noppen versehen, unten allerdings noch hohl, wodurch Konstruktionen wenig stabil blieben. Der Mechanismus, die genoppten Steine mit Röhren an der Unterseite des Gegenstücks zu kuppeln, wurde erst Ende der Fünfziger patentiert: das berühmte Lego-System. Das Unternehmen erweiterte nach und nach das Sortiment. 1978 wurden unter der Leitung von Kjeld Kirk Kristiansen, dem Enkel des Firmengründers, die Minifiguren eingeführt, auch die ersten Ritterburgen und Raumschiffe kamen auf den Markt.
Professorin für Spielzeug
Als sich das 20. Jahrhundert seinem Ende zuneigte, geriet die Lego Group in eine schwere Krise. Der Markt hatte sich verändert, Kinder wuchsen schneller aus dem Lego-Alter heraus, dazu kam digitale Konkurrenz: Videogames waren auf dem Siegeszug. Lego reagierte mit der vielleicht wichtigsten Weichenstellung der Firmengeschichte: 1999 erwarb man die «Star Wars»-Lizenz und begann mit der Vermarktung von Bausätzen zu dem einst von George Lucas imaginierten Filmkosmos. Den Abwärtsstrudel stoppte das erst, als ein McKinsey-Berater 2004 CEO wurde und über die Hälfte der Belegschaft entliess. Nach dieser Radikalkur vervierfachte sich der Unternehmensgewinn zwischen 2003 und 2013, bald überholte Lego den Barbie-Hersteller Mattel und wurde zum umsatzstärksten Spielwarenhersteller der Welt.
Heute erreicht Lego mehr Menschen in mehr Lebensaltern denn je. Dieser Erfolg kommt aber zu dem Preis, dass immer mehr Marken den Kosmos des Herstellers dominieren – es gibt inzwischen selbstverständlich Sets zu «Super Mario» oder «Avatar», veröffentlicht entlang der Zyklen der Kinostarts. Traditionalistische Fans befremdet diese Entwicklung schon seit längerem: Ist das noch das Lego von früher, wenn man den für 800 Franken erstandenen «Millennium Falcon» einmal zusammenbastelt, um ihn ins Regal zu stellen? Ging es nicht ursprünglich um eine Kiste voller Bausteine, in die man greifen konnte, um seiner Fantasie freien Lauf zu lassen?
Die Kommerzialisierung hat aber zugleich das wissenschaftliche Interesse geweckt – auch wenn die akademische Beschäftigung mit Spielzeug noch immer auf Vorbehalte stösst. Als die US-Kulturwissenschaftlerin Rebecca C. Hains vor ein paar Jahren einen Gastbeitrag über Spielwaren in der «Washington Post» veröffentlichte, spottete ein Internettroll: «Barbie und Lego – man kann einfach für alles Professor sein in unserem grossartigen Land!»
Spricht man Hains heute darauf an, lacht sie darüber. Solche Ressentiments seien aufschlussreich: Sie belegten, wie sehr die Dimensionen der Spielwarenindustrie vom Alltagsbewusstsein unterschätzt würden. «Wenn Disney einen neuen Film auf die Leinwand bringt, weiss das Unternehmen, dass es mit dem Merchandise viel mehr Geld verdienen wird als mit dem Verkauf von Kinotickets», sagt die in Salem im US-Bundesstaat Massachusetts lehrende Professorin. Allen sei klar, wie kulturell bedeutend die Filmbranche sei und wie viel Profit dort erwirtschaftet werde. «Bei der Spielzeugindustrie ist das nicht so, obwohl die noch viel grösser ist. Wenn aber Spielwaren wirklich so unspektakuläre Dinge sein sollen – wieso kann man damit so viel Geld machen?»
Hains selbst ist mit Lego aufgewachsen, auch ihre Kinder spielen heute mit den Bausteinen des Herstellers. Sie sei keinesfalls «Anti-Lego», betont die Wissenschaftlerin. Trotzdem sei es wichtig, genau hinzuschauen, was da ins Spielzimmer komme. Hains’ Interesse weckte dabei das Themenset «Lego Friends», das das Unternehmen 2012 einführte, um gezielt Mädchen zu erreichen. In Billund hatte man registriert, dass man vor allem eine männliche Zielgruppe ansprach, was allerdings selbst verschuldet war: Irgendwann in den Achtzigern hatte die Lego Group angefangen, ihre Produkte dezidiert als Spielzeug für Jungs zu bewerben. «Um das zu ändern, versuchten sie nun aber nicht, Mädchen mit den bereits existierenden Themensets anzusprechen und einfach mehr weibliche Charaktere herzustellen», sagt Hains. Stattdessen gibt es heute den «Lego Friends Friseursalon» oder das «Lego Friends Bubble Tea Mobil» – ganz so, als ob es klischierte Rollenbilder bräuchte, um Mädchen hinter dem Ofen hervorzulocken.
Trivial sei so etwas nicht, sagt Hains. Spielwaren seien Gegenstände, mit denen Kinder sich die Welt allmählich erschlössen. «Wenn sie dort lernen, dass Mädchen sich am liebsten mit Mode beschäftigen, während Jungs komplizierte Fahrzeuge steuern, Wissenschaft betreiben oder Superhelden sind, kommuniziert ihnen das, was kulturell wertgeschätzt wird und was nicht.»
Batman als Witzfigur
Lego ist aber nicht nur geschlechterpolitisch ein interessanter Gegenstand, sondern auch ein Studienobjekt dafür, wie medienübergreifende Verwertungsketten funktionieren. Im akademischen Diskurs spricht man vom «transmedialen Storytelling». Medienübergreifende Erzählformen gibt es eigentlich schon sehr lange: Bereits im Mittelalter wurden Geschichten aus der Bibel bei der Predigt, in Altarbildern oder mittels Reenactment dargestellt, etwa beim Nachspielen der Kreuzigung. Unter den kulturindustriellen Bedingungen von heute hat das Phänomen allerdings viel grössere Dimensionen gewonnen.
Beim transmedialen Storytelling gehe es um mehr als um die blosse Adaption eines Bestsellers fürs Kino, betont der an der privaten Hochschule Macromedia und der Universität Köln lehrende Medienwissenschaftler Hanns Christian Schmidt. Entscheidend sei die «narrative Zufügung», wenn eine bereits existierende Erzählung mit einem weiteren Puzzleteil ergänzt werde. «Eine Nebenfigur eines Comics wird zur Hauptfigur eines Films oder ein nebensächlicher Handlungsstrang zum eigenständigen Plot in einem Videospiel», sagt Schmidt. Lego ist dafür ein hervorragender Anschauungsstoff, weil das Unternehmen seit dem Erwerb der «Star Wars»-Lizenz zahlreiche global bekannte Marken weiterverarbeitet hat. Zu Batman etwa gibt es mehrere Lego-Bausätze und Videogames, und der Superheld spielt in drei der vier Lego-Kinofilme eine tragende Rolle. Tatsächlich gewinnt der Batman-Stoff dabei eine neue Facette hinzu: Im Lego-Kosmos ist der Rächer in Schwarz eine Witzfigur, die Ausprägungen toxischer Männlichkeit vorführt.
Medienübergreifende Verwertungsketten funktionieren aber auch weniger offensichtlich. Spaziert man durch das Legoland beim bayerischen Günzburg, wo über fünfzig Millionen Teile zu kleinen Lego-Kunstwerken verbaut sind, stolpert man früher oder später in eine noch recht neue Themenwelt namens «Mythica». Deren Hauptattraktion ist eine spektakuläre Achterbahn, im Shop kann man die dazu passenden Spielsets kaufen. Interessant daran ist, dass es zuerst die «Mythica»-Bahn gab und dann erst die entsprechenden Produkte. Ähnlich hat es Disney mit der Kinoreihe «Pirates of the Caribbean» vorgemacht, die einer bereits 1967 eröffneten Attraktion im Disneyland Kalifornien entsprungen ist.
Gerade aus kommerzieller Sicht sei das transmediale Erzählen ein interessantes Konzept, sagt Schmidt. «Haushaltswarenhersteller und Verlagshäuser haben am Ende des 19. Jahrhunderts angefangen, Lizenzabkommen miteinander zu schliessen, bei denen die Popularität einer bestimmten Figur als Werbemassnahme fungiert. Grosse Medienproduktionsfirmen haben später dann gemerkt, dass sie auf diese Weise noch mehr Merchandise verkaufen können.» Entsprechend würden grosse Produktionen heute konzipiert: Es geht dabei nicht mehr nur um einzelne Geschichten. Stattdessen werden ganze «Storyworlds» entworfen, aus denen sich eine Vielzahl von Geschichten und Figuren gewinnen lassen. Diese Erzählwelten bilden den Stoff für Kinofilme und Serien wie auch deren Prequels, Sequels und Spin-offs, die wiederum das Material für Videogames und Spielwaren hergeben. Die schier endlose Vermarktung des «Star Wars»-Universums durch Disney oder des DC-Superhelden-Kosmos durch Warner veranschaulicht diese Dynamik.
Mitten in diesem Verwertungssturm steht auch Lego. Die vielen Lizenzprodukte befeuern dabei die Kommerzialisierung der Kinderzimmer, Spielwelten und Marken fallen häufig in eins. «Die Spielzeugindustrie erzieht Kinder gezielt dazu, sich selbst als Konsumenten von Markenprodukten zu begreifen», sagt Hains. So kommt ein Junge vielleicht über die Harry-Potter-Bücher zu den lizenzierten Lego-Produkten, über diese dann zu den von Lego vertriebenen Disney-Sets und von dort zu Disney-Filmen und anderem Merchandise. Das bringe Kindern bei, Markentitel als «Bausteine der Imagination» zu verwenden, sagt die Kulturwissenschaftlerin.
Das Unternehmen betont trotzdem unverdrossen, dass Lego pädagogisch besonders wertvoll sei und es darum gehe, die «Erbauer von morgen» zu «inspirieren». Dabei gibt es schon seit Jahren die Kritik, dass gerade der Erwerb der «Star Wars»-Lizenz zu einer Militarisierung von Lego geführt habe und immer mehr Waffen Einzug ins Sortiment gefunden hätten. Während sich Lego zu den Zeiten des Vietnamkriegs noch als «pazifistische» Alternative präsentierte und die ersten Ritterburgen gelb waren, damit Kinder aus den Steinen keine realistisch aussehenden Panzer konstruieren konnten, hat es in den eben erschienenen «Indiana Jones»-Sets sogar ein deutsches Kampfflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg ins Sortiment geschafft.
Trotzdem sei an der PR von Lego auch etwas dran, sagt Hains. Ein anspruchsvolles Lego-Set zusammenzubasteln, die Anleitung zu lesen und zu verstehen, Probleme beim Bau zu lösen – all das könne Kinder bereichern. «Ausserdem nutzen sie die Bausteine noch immer sehr frei, wenn sie einfach in die Kiste greifen und drauflosbauen», sagt Hains. Ähnlich sieht das Schmidt. Die meisten Lego-Artikel, die man für Kinder kaufe, würden ja am Ende doch wieder in einer Schachtel landen. «Man könnte also diese Legobox selbst als eine Art Technologie interpretieren: Oben liegen die neueren Sets, und man muss ein bisschen wühlen, um an die älteren zu gelangen, wodurch sich eine Art Remix ergibt», sagt der Medienwissenschaftler.
Wenn alte Leute Lego spielen
Allerdings hat Lego längst nicht mehr nur Kinder zur Zielgruppe auserkoren – dafür reicht ein Blick auf die Website des Herstellers, auf der angegraute Männermodels verträumt über Raumschiffe streichen. Offensichtlich soll das Leute ansprechen, die schon in jungen Jahren mit Lego gespielt haben und nun auch als «Best Agers» ihr Hobby von einst kultivieren möchten.
Für erwachsene Lego-Fans gibt es im Englischen sogar ein eigenes Akronym: Man spricht vom «Afol», dem «Adult Fan of Lego». Die Afols sind jedoch nicht bloss treue Käufer und Sammlerinnen von Lego-Sets, sondern inzwischen auch Produzent:innen eigener Inhalte. Schlagzeilen machte der Fall des Einzelhändlers und Youtubers Thomas Panke alias «Held der Steine», der aus markenrechtlichen Gründen ins Visier der juristischen Abteilung der Lego Group geriet. Dieser bescherte das schlechte Presse, während Panke seither für seine über 800 000 Abonnent:innen Clips produziert, in denen er im Wutbürgerstil über überteuerte Lego-Fabrikate herzieht.
Der «Held der Steine» ist aber nur einer von vielen Lego-Youtuber:innen. Deutlich entspannter kommen die Videos von Sebastian Beintker und Andy Schneidewind daher. Unter dem Namen «Steckkastenkrew» bloggen die beiden Leipziger, 40 und 32 Jahre alt, schon seit ein paar Jahren über Lego. Seit 2021 veröffentlichen sie auch Reviewclips. Die Videos der «Krew» sind eine Reminiszenz an den deutschen Hip-Hop von einst – die beiden tragen Baseballcaps und begrüssen das Publikum mit einem gereimten Spruch, was dem Ganzen ironische Leichtigkeit verleiht. Ebenso nostalgisch ticken sie in Sachen Lego. In den Videos geht es stets um Vintage- und Retro-Lego – was nicht dasselbe ist, wie die beiden betonen: «Vintage» meint altes Lego, «Retro» neue Sets mit retrospektiven Motiven. Die lizenzierten Sets jedenfalls, die Lego heute vermarktet, spielen bei ihnen keine Rolle. «Bei mir war Vintage-Lego schon viele Jahre Thema. Andy kam bei unserem Kennenlernen frisch aus den ‹Dark Ages›, also der Zeit, in der man sich nicht mit Lego beschäftigt hat», erzählt Beintker.
Kommerzielle Interessen verfolgen sie nicht, der Kanal ist mit ein paar Tausend Abonnent:innen auch relativ klein. Beintker, der hauptberuflich im Marketing arbeitet, sagt, sie wollten anfangs einfach nur einen Lego-Blog starten. Schnell sei klar gewesen, dass der Fokus auf alten Sets liegen sollte: «Als DDR-Kind war Lego für mich ein selten verfügbares Highlight aus duftenden Westpaketen oder dem Intershop. Die bunten Steine haben mich tief geprägt.» Mit Kritik an der Entwicklung des Sortiments habe das nichts zu tun, auch wenn es früher «nicht so viele Spezialteile und Farben» gegeben habe: «Es wurden Dinge kreativ mit einfachsten Mitteln und viel Fantasie umgesetzt.» Seither hat sich bei Lego viel getan.