Comics: Und sofort brannte das Internet
Comicgigant Marvel setzt bei seinen Figuren auf ethnische Vielfalt, um neue Märkte zu erschliessen, und kommt damit bei seiner alten, weissen Zielgruppe in die Kritik. Doch im Grunde bleibt das Unternehmen nur seinen Wurzeln treu.
Eigentlich will er es im Nachhinein gar nicht selber gesagt haben. Aber gesagt hat er es eben doch: Anlässlich eines Interviews mit dem Geek-Portal ICv2 erklärte David Gabriel, Vizepräsident des US-Comicgiganten Marvel, schuld an den derzeit eher schlechten Verkaufszahlen des Unternehmens sei der Fokus der Firma auf «diversity», also ethnische Vielfalt: «Wir hören, dass die Leute nicht noch mehr Vielfalt wollen. Und sie wollen keine weiblichen Charaktere.»
Gabriel stach damit in ein Wespennest. Das Internet brannte innert weniger Stunden, Onlinemedien von «Slate» über «Variety» bis «Breitbart» nahmen sich der Nachricht an, und in den Kommentarspalten setzte ein derzeit sehr typischer Diskurs über vermeintliche Political Correctness ein. Insbesondere meldeten sich viele alte Fans zu Wort, die sich darüber ausliessen, dass Marvel sich von ihnen abgewendet habe und ihre heiss geliebten Figuren für politische Botschaften missbrauche. Gabriel selber ruderte zwar schnell zurück und betonte, er habe nur transportiert, was er von den Vertretern einiger Comicläden gehört habe, während er natürlich zur aktuellen Strategie des Unternehmens stehe – aber der Schaden war angerichtet.
Eiskaltes Kalkül
Die Diskussion kommt zu einem äusserst spannenden Moment in der Comicwelt: Seit Marvel – der grösste Comicverlag der USA – Ende 2009 für 4,24 Milliarden US-Dollar an den Unterhaltungsgiganten Disney verkauft wurde, erobern die Figuren aus dem «Haus der Ideen» fast monatlich die Kinoleinwand und streichen Milliardengewinne ein. Die zugrunde liegende Comicindustrie krankt gleichzeitig an durchschnittlichen bis schlechten Verkaufszahlen.
Wie jeder Comichersteller hat auch Marvel das Problem, dass die Geschichten zu einer endlosen Seifenoper verwoben sind, die seit Beginn der sechziger Jahre läuft. Das Zaubermittel dagegen heisst hier «Reboot» – also ein Neustart mit denselben Figuren mit neuen Geschichten. Was der Hauptkonkurrent DC Comics alle paar Jahre praktiziert, war für Marvel lange Zeit ein Tabu – bis 2016, als mit «All New, All Different Marvel» alle Serien des Hauses zurück auf #1 gesetzt, die vielen Hundert Charaktere zu neuen Teams zusammengewürfelt oder – und hier setzt die vermeintliche Political Correctness an – schlichtweg ersetzt wurden: Der Donnergott Thor war plötzlich eine Frau, Iron Man eine schwarze Frau, Ms. Marvel ein US-pakistanischer Teenager, der Hulk ein US-Koreaner, Spider-Man ein Latino.
Dem Unternehmen dabei eiskaltes Kalkül zu unterstellen, ist nicht ganz falsch. War der klassische Comicleser bis in die neunziger Jahre tatsächlich ein weisser Mann zwischen 12 und 35 Jahren, hat sich auch aufgrund der enormen Rezeption der Kinofilme das Interesse an Comics gewandelt und spricht nun ein grösseres LeserInnenfeld an. Doch die Behauptung im Zusammenhang mit Gabriels Kommentar, Marvel «kehre sich damit von seinen Geschichten ab» und «hämmere den Lesern seine politische Botschaft in den Kopf», zielt völlig ins Leere, wie ein Blick in ebenjene Geschichte zeigt.
Eine multinationale Supergruppe
Der Erfolg des Unternehmens ist untrennbar mit Stan Lee (geboren als Stanley Lieber) und Jack Kirby (Jacob Kurtzberg) verbunden, die gemeinhin als die Erfinder des modernen Superheldengenres gelten. Zwar erfreuten sich Heldencomics schon während des Zweiten Weltkriegs einer grossen Popularität («Captain America» hatte eine grössere Reichweite als das «Time Magazine»), doch mit der Erfindung der Fantastic Four (1961) und kurz darauf der X-Men schufen Lee und Kirby jene Stoffe, die das Genre bis heute prägen: Waren die Helden der vierziger Jahre moralische Vorbilder gewesen, «ganz normale» Menschen, die sich einfach ein Cape umbanden, um pünktlich zum Ende jedes Hefts das Böse zu besiegen und gemeinsam Apfelkuchen zu essen, waren die Marvel-Helden näher an den Gottheiten der Antike: zwar mit übermenschlichen Kräften ausgestattet, aber in ihren Charakteren fehlbar und häufig mit ihren Fähigkeiten überfordert.
Die Fantastic Four verbrachten mehr Zeit damit, sich untereinander zu streiten, als gegen ausserirdische Kräfte zu kämpfen. Spider-Man Peter Parker war ein schüchterner Teenager, der verzweifelt versuchte, zu einem Date zu kommen, während er endlos darunter litt, dass sein Ziehvater einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, das er nicht hatte verhindern können.
Und mit den X-Men erzählten Lee und Kirby eine Geschichte über Menschen, die von der Gesellschaft ausgestossen, gehasst und gejagt wurden, einfach weil sie anders waren – und die sich dennoch weigerten, den Glauben an ein friedliches Zusammenleben aller Menschen aufzugeben, egal ob sie nun von bösen Mutanten, der Regierung oder schlichtweg der ganzen Menschheit gehasst wurden: eine zutiefst politische Botschaft mit zwischendurch offensichtlichen Anlehnungen an den Holocaust, der auch in Lees und Kirbys Familien Hunderte Opfer gefordert hatte.
Das Konzept floppte zwar im ersten Anlauf, und die Serie wurde 1969 eingestellt, doch Lee (inzwischen vom Hauptautor zum Verlagsleiter aufgestiegen) blieb beim Thema: Mit dem Black Panther erfanden er und Kirby 1966 den ersten schwarzen Superhelden der Geschichte – den Prinzen des technologisch weit fortgeschrittenen afrikanischen Ministaats Wakanda. Nach der Ermordung Martin Luther Kings machte Lee einen weiteren schwarzen Helden, den Falcon, zum Partner von Captain America – eine der wenigen überlebenden Figuren aus den unberührten vierziger Jahren und in seiner patriotischen «Weissheit» kaum zu überbieten. Stan Lee schrieb dazu im Dezember 1968: «Bigotterie und Rassismus gehören zu den tödlichsten sozialen Krankheiten, welche die Welt heute bedrohen.»
Waren die ersten X-Men noch ein exklusiv weisses Team, änderte sich dies schlagartig mit dem Relaunch 1975. In «Giant-Size X-Men #1» wurden sie als die erste multiethnische, multinationale Supergruppe der Comicgeschichte neu erfunden: eine afrikanische Göttin, ein deutscher Katholik, der aussah wie ein Dämon, ein irischer Polizist, ein russischer Bauer, ein Apache, ein Japaner – und obendrauf mit Wolverine und Phoenix zwei Figuren, die sich in den kommenden Jahren zu den populärsten ComicheldInnen überhaupt mausern sollten: Jean Grey als die vielleicht erste echt eigenständige Frauenfigur in US-Comics, nachdem sich die «graue Maus» Grey zur Gottheit Phoenix gemausert hatte (die «Dark Phoenix Saga» von 1980 gehört bis heute zu den meistverkauften Marvel-Sammelbänden überhaupt), und natürlich Wolverine in seiner menschlichen Inkarnation als Hugh Jackman.
In den neunziger Jahren kamen dazu noch die erste offen lesbische Figur (Mystique) und im Juni 2015 die erste Homoehe (Northstar und Kyle Jinadu in «Astonishing X-Men #51») in Mainstreamcomics – Letzteres unter dem Protest rechter religiöser Gruppen.
Disneys Entwicklungsabteilung
Zurück in die Gegenwart: Im Nachhall der Diskussion um Gabriels Bemerkung wurde Marvel viel vorgeworfen – nicht zuletzt, dass vor allem hektisch gefällte Geschäftsentscheidungen für die schlechten Verkaufszahlen verantwortlich seien. So wurden einige Hefte kurzfristig eingestellt, anstatt sie über eine gewisse Zeit laufen zu lassen, um sich ein Publikum zu erarbeiten – dabei war gerade dies lange Zeit jene Geschäftspraktik gewesen, mit der sich Marvel von seinen Konkurrenten abhob.
Doch eigentlich ist klar: Marvel muss mit seinen Comics gar kein Geld verdienen. Wichtig ist nur, dass die Figuren weiterhin im Gebrauch bleiben und damit die Rechte an ihnen nicht verfallen. Marvels Hauptkonkurrent DC veröffentlichte über Jahrzehnte hinweg defizitäre Superman-Hefte, die von den Gewinnen an den Lizenzen der Figur mit dem roten S wieder wettgemacht wurden. Oder wie es der englische «Guardian» formulierte: «Marvel ist de facto Disneys Entwicklungsabteilung, die Spitze des Eisbergs einer Multimilliardenindustrie. (…) Wenn sie zwischendurch nicht wiederholt scheitern, dann riskieren sie nicht genug.» Soll heissen: Für den Mutterkonzern Disney ist Marvel nichts anderes als eine schier endlose Schatztruhe an Figuren, aus denen weitere Blockbuster gebastelt werden können.
Übrigens: Seine alten Figuren hat Marvel natürlich nicht vergessen. Der nächste Event des Unternehmens läuft unter dem Titel «Generations» und bringt das Aufeinandertreffen der neuen und alten Helden – was wohl auch die «alte» Zielgruppe wieder zufriedenstellen dürfte.