Im Dunkeln sieht man besser Streaming bis zum Abwinken: An Filmen war seit der Pandemie auch dann kein Mangel, wenn die Kinos geschlossen waren. Aber was vermissen wir, wenn das Kino fehlt?
Warum Theater? Auf diese oft gestellte Frage antwortete der Dramatiker Heiner Müller einmal mit dem provokativen Vorschlag, alle Theater der Welt für ein Jahr zu schliessen. Dann wisse man hinterher vielleicht, warum Theater. Das Liveexperiment, das nun Corona mit sich brachte, mag chaotischer vonstattengehen als in einer echten Versuchsanordnung, aber unterm Strich mussten genug Kinotheater auf der Welt für genug Monate ihren Spielbetrieb unterbrechen, um erste Antworten auf die Frage zuzulassen: Warum Kino?
Dabei tut sich sofort ein grosser Unterschied zum Theater auf: Niemand würde behaupten, eine gefilmte Theateraufführung sei mit einem Theaterbesuch gleichzusetzen. Aber ob man einen Film im Kino oder auf einem Bildschirm anschaut, stellt – vorsichtig formuliert – für viele Menschen auf den ersten Blick zwar nicht ganz das gleiche, aber doch kein wirklich kategorisch anderes Erlebnis dar. Zumindest bleibt die Erfahrung eine flüchtige, denn ob man einen Film im Kino oder auf anderen Wegen gesehen hat, das scheint später kaum mehr eine Rolle zu spielen. Oder welcher Pedant würde bei der Zusammenstellung einer persönlichen Top-Ten-Liste die Differenz markieren?
Letzte Bastion der Passiven
Wenn die Schliessungen der Kinos bei manchen Mangelerscheinungen hervorgerufen haben, dann bezog sich das nicht so sehr auf die Filme – von diesen gab es selbst in einem Jahr der ausgedünnten Kinostarts genug zu sehen. Und wer unter den Premieren der Streamingriesen wie Netflix und Co. partout nichts Ansprechendes entdeckte, konnte immer noch auf das überreiche Angebot der frisch lizenzierten Filme auf DVD und VOD zurückgreifen.
Was im vergangenen Jahr fehlte, waren also weniger die Filme selber, sondern etwas anderes: das Kino als Ort einer bestimmten sozialen Praxis, als Ort der Verabredung, des Zusammenkommens. Als ein besonderer Raum, wo das gemeinsame Erleben die Stimmung bestimmt und dazu noch Gesprächsstoff liefert. So, wie wir Restaurants nicht nur als Orte des Essens vermissen, vermissen wir auch das Kino nicht nur als Ort des Filmeschauens, sondern als eine Weise der Entdeckung, des Genusses, seiner Überhöhung, seiner Veredelung. Und als öffentlichen Raum. Selbst wer allein ins Kino geht, begibt sich in die Öffentlichkeit und nimmt an einer Art öffentlichem Diskurs teil.
Je länger man darüber nachdenkt, desto mehr zeichnet sich ab, dass darin mehr liegt als die blosse Tatsache, «gemeinsam mit anderen im Dunkeln einen Film» zu schauen. Der Filmexperte Lars Henrik Gass, seit über zwanzig Jahren Leiter der Kurzfilmtage in Oberhausen, spricht in diesem Zusammenhang vom «Zwang zur Wahrnehmung», wenn er in seinem Essayband «Filmgeschichte als Kinogeschichte» (2019) das zunehmende Verschwinden des Kinos als einer mediengeschichtlich einzigartigen Wahrnehmungsform diagnostiziert. Das Kino habe das Publikum in die passive Haltung des Zuschauens gezwungen – und sei damit gegenläufig zu den Aufrufen zur Partizipation, zur Interaktivität, zur Selbstgestaltung, wie sie die moderne Kunst ausmachen. Wo Letztere sich laut Gass «prima mit der neoliberalen Ich-AG» verstehe, wird aus dem Kino so eine Art letzte Bastion des Subversiven.
Diese Sichtweise ist gewollt überspitzt – passiv bleiben wir schliesslich auch, wenn wir Netflix oder Disney+ gucken. Trotzdem besitzt die Idee vom Kino als Ort der kulturellen Subversion einige Ausstrahlungskraft. Sie setzt sich fort in gegenwärtigen Diskussionen, in denen Streaming und Kino gegeneinander ausgespielt werden – auch da wird das Kino gerne als die letzte individuelle, dezentrale Erfahrung überhöht, im Gegensatz zur hyperzentralisierten Filmversorgung durch die grossen Techkonzerne, die unsere Daten absaugen und mit ihren Algorithmen angeblich auch noch unseren Geschmack und unsere Interessen manipulieren.
Bleibt die Frage, warum diese widerständige, subversive Form des Filmkonsums zugleich so prekär erscheint, bedroht von Dingen wie dem «Second Screening». Das Schielen auf den «zweiten Bildschirm», meist in Form des Smartphones mit seinem Lockruf zum permanenten Mails-Checken und der Ablenkung durch Mitteilungen, beeinträchtigt nicht mehr nur den Filmgenuss auf dem heimischen Sofa, er ist auch in den Kinosälen zur Plage geworden. Die Kritik am undisziplinierten Publikumsverhalten hat schon vor Corona die ältere Klage darüber abgelöst, dass der Film zum blossen Werbe- und Beiprodukt verkomme, wenn die Kinobetriebe durch den Verkauf von Popcorn, Getränken und Merchandise-Artikeln mehr Geld einnehmen als mit dem Ticketverkauf. Zusammengenommen ergab sich daraus auch schon vor der Pandemie die These, dass sich das Kinoerlebnis als solches erschöpft und überlebt habe. Nicht umsonst forderte etwa Lars Henrik Gass bereits eine mit Verstand und Selbstbewusstsein geplante «Musealisierung» des Kinos.
Aber bevor der Tod des Kinos vorschnell zur beschlossenen Sache wird, sei daran erinnert, dass Kino und Krise alte Bekannte sind. Den schlimmsten Einbruch hat das Kino in den fünfziger Jahren durch die Ausbreitung des Fernsehens erlebt. Alle nachfolgenden Krisen fielen viel kleiner aus, was den tatsächlichen BesucherInnenschwund anging, auch wenn sie sich oft endgültiger anfühlten. Regelrecht für tot erklärt wurde «das Kino» zuletzt in den achtziger Jahren, als die Einführung des Videoverkaufs und -verleihs den Filmkonsum veränderte und es zu vielen Kinoschliessungen kam. Völlig ausgestorben ist dabei am Ende aber allenfalls das Segment der Pornokinos.
Die Filmindustrie als solche fand eine andere Antwort auf die «Bedrohung» durch Video: technische Aufrüstung. In den neunziger Jahren wurden die Kinosäle neu ausgestattet, die Leinwände vergrössert und das Kinoerlebnis gewissermassen «skaliert». Die «Aufrüstung» schloss auch die Filme selbst ein, wobei die Digitalisierung als wichtiger Katalysator fungierte. Das Blockbusterkino verwandelte sich in ein Spektakelkino, das auf den weltweiten Effekt ausgerichtet ist. Die Superheldenfilme von Disney und Warner, die die Kinolandschaft der letzten zehn bis zwanzig Jahre dominierten, sind so gesehen auch eher eine Reaktion auf neue Konkurrenzmedien. Mit ihrer verzweigten Struktur von Sequels, Prequels und Spin-offs, die die Fans an die Franchise bindet, während mit Spoilerwarnungen der Appetit immer wachgehalten wird, profitieren sie von der grossen Leinwand, auch wenn sie diese gar nicht unbedingt brauchen.
Unfreiwilliger Entzug
Denn diese Filme sind beides zugleich: Kinoerlebnis und Sammlerobjekt. Der echte Fan zahlt zuerst fürs Kino und dann für die Sonderedition auf Blu-Ray. Und selbst wenn absehbare Blockbuster wie «Wonder Woman 1984» in den kommenden Monaten statt in den Kinos zuerst als «PVOD» (Premium Video on Demand) ausgewertet werden: Es scheint mehr als wahrscheinlich, dass diese Filme ins Kino zurückkehren werden, sobald sich ihr erfolgreicher kommerzieller Einsatz wieder planen lässt. Nicht nur, weil sich so teure Grossproduktionen allein über Streaming in nächster Zukunft gar nicht rentabel auswerten lassen, sondern schlicht auch, weil Kinos dafür eine verlässliche und attraktive Auswertungsform bleiben.
Selbst wenn sich ein Martin Scorsese abschätzig über das Superheldenkino äussert und darin den Feind des Arthouse als des «wahren» Kinos ausgemacht haben will: Aufseiten des Publikums sind PuristInnen in der Minderheit. Nicht alle interessieren sich für alle Genres, aber eine echte Polarisierung zwischen Kunst- und Kommerzkino ist nicht festzustellen. Und wo dieser überholte Gegensatz kaum mehr reizt, funktioniert auch die oft beschworene «Feindschaft» von Kino- und Bildschirmerfahrung nicht mehr.
In Wahrheit sind wir alle längst «hybride» FilmguckerInnen: geprägt von dem einen oder anderen Animationsfilm, den man als Kind im Kino sehen durfte, genauso wie von «Casablanca» und «Manche mögens heiss», die man als Teenager im Fernsehen entdeckte. Die Filmklubs und Programmkinos haben einem den Horizont geöffnet, genauso wie später die breite Verfügbarkeit von internationalen DVDs im Onlinehandel. Soll heissen: ein «Mangel» an Kinoerfahrung ist unseren Filmerlebnissen, unserer cinephilen Biografie schon länger eigen. Umgekehrt gilt aber auch: Gerade den prestigeträchtigsten Streamingtiteln der letzten Jahre, wie «Roma» von Alfonso Cuarón oder zuletzt «Mank» von David Fincher, ist ihre Bezogenheit auf das Kino und seine Geschichte unweigerlich eingeschrieben.
Die letzten Monate des unfreiwilligen Kinoentzugs haben uns deshalb im Grunde keinen fundamentalen Unterschied von Streaming und Kino vor Augen geführt. Vielmehr haben sie uns gezeigt, wie gut sich beides ergänzt. Und man muss kein Pathos über die «Magie des Kinos» bemühen, um am eigenen Leib zu spüren, wie gross langsam die Vorfreude darauf ist, endlich wieder ins Kino gehen zu können. Fast egal, welcher Film dann läuft.