Literatur: Funken fliegen durch die Zeit

Nr. 21 –

Buchcover von «Fö. Zernezer Feuer. Eine Familiensaga.»
Selma Mahlknecht: «Fö. Zernezer Feuer. Eine Familiensaga.» Edition Raetia. Bozen 2023. 124 Seiten. 34 Franken.

Lesungen in: Val Müstair, Mittwoch, 31. Mai 2023; Zernez, Samstag, 3. Juni 2023; Chur, Montag, 19. Juni 2023; Sils, Sonntag, 25. Juni 2023.

Nur 27 der 145 Häuser bleiben von den Flammen verschont, die das Engadiner Dorf Zernez 1872 fast verschlingen. Was macht das mit einem Ort, «wo die Winter hart sind und die Sommer kurz und trügerisch»? Wie dieses Feuer, «il prüm fö», in den Menschen fortlodert, davon erzählt Selma Mahlknecht in einer Familiensaga, die 150 Jahre umspannt und sich als Variationen in fünf Personen verdichtet.

In «La Linterna» (Laterne) trägt die junge Braida den Brand, den sie gar nicht erlebt hat, in sich eingeschlossen als einen Schrei, «der ihr Leben zerriss in ein Davor und Danach» und der sie erstarren liess, bis Fracasch, der laute Bursche aus Bergamo, in ihr Leben tritt. «La Sbrinzla» (Funke) steht dann für ihren gemeinsamen Sohn Gion: ein flamboyanter Schwerenöter, der nach Amerika abhaut und der Mutter das Herz bricht.

Als alte Frau zündet Braida jeden Abend «Las Chandillas» an, zwei Kerzen für den verstorbenen Mann und den vermissten Sohn. Sieben Kinder habe sie um sich und sehe doch nur den einen, der fehlt, wirft ihr die älteste Tochter Illa vor, die aus Genf zurückgekommen ist, um die Mutter zu pflegen. Als feministische «Madame» wird Illa im Dorf ähnlich beargwöhnt wie ihr Neffe Duri, der in «La Chadafö» (Küche) glaubt, «jede innere Glut abtöten» zu müssen, weil er «anders» ist und sich doch folgenschwer in einen Hilfsarbeiter aus Portugal verliebt.

Seine Nichte Lorena schliesslich soll «La Fuschella» (Fackel) tragen. Gemeint ist auch die bauhandwerkliche Familientradition im Dorf, das heute längst und bis ins grosselterliche Haus vom Tourismus geprägt ist. Doch «la sbrinzla» glimmt auch in ihr …

Selma Mahlknecht erzählt in einer reduzierten Sprache, die schwebend leicht daherkommt und gleichzeitig so intim ist, dass sie mit nur wenigen Worten poetische Stimmungsbilder erschafft. Als wären die Figuren in den Schein eines Feuers getaucht, das je nachdem dunkel schwelt, hell auflodert oder knistert und Funken sprüht. Wir sitzen mit ihnen ums Fö und wärmen uns an ihren Geschichten.