Türkische Opposition: Etwas Luft zum Atmen

Nr. 21 –

Dass Präsident Erdoğan mit deutlichem Vorsprung in die Stichwahl geht, setzt die Opposition merklich unter Druck. Kann sie nochmals mobilisieren?

Aktion der linken Türkiye İşçi Partisi (Arbeiterpartei der Türkei) in Istanbul: eine Frau verteilt Wahlwerbung
Wählt nicht Erdoğan! Aktion der linken Türkiye İşçi Partisi (Arbeiterpartei der Türkei) in Istanbul.

«Dies ist nicht nur eine Wahl zwischen Kılıçdaroğlu und Erdoğan! Es ist eine Wahl zwischen der Jugend, die ihrer Zukunft beraubt wurde, und Erdoğans Regime!», ruft Ünal Çelik den Passant:innen auf dem Bahnhofsvorplatz in Kadıköy, einem zentralen Bezirk auf der anatolischen Seite von Istanbul, zu. Çelik ist Bezirksvorsitzender der linken Türkiye İşçi Partisi (TİP); täglich verteilen er und seine Parteigenoss:innen hier Flyer, die zur Wahl des Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu aufrufen.

Im ersten Wahlgang Präsident Recep Tayyip Erdoğan besiegen und die Mehrheit im Parlament gewinnen – so hatte der Plan der Opposition für den 14. Mai ausgesehen. Doch stattdessen konnte sich die regierende AKP mit ihrem Bündnis Cumhur İttifakı erneut die parlamentarische Mehrheit sichern. Keiner der vier Präsidentschaftskandidaten erlangte mehr als fünfzig Prozent aller Stimmen, sodass nun Recep Tayyip Erdoğan und der Sozialdemokrat Kemal Kılıçdaroğlu in einer Stichwahl gegeneinander antreten müssen. Am Sonntag wird sich entscheiden, ob Erdoğan für weitere fünf Jahre die Türkei regieren wird. Dagegen kämpft nicht nur das Oppositionsbündnis von Kılıçdaroğlu, die Millet İttifakı, sondern auch das dritte, linke Bündnis für Arbeit und Freiheit, zu dem sowohl die TİP wie auch die grüne Linkspartei Yeşil Sol Parti gehören.

Ünal Çelik von der Türkiye İşçi Partisi
Ünal Çelik, Türkiye İşçi Partisi

«Dass Erdoğan in der ersten Runde vorne lag, war für die Opposition erst einmal erschütternd», erklärt Çelik beim Flyerverteilen. «Aber wenn wir die Zahlen aller Kandidaten zusammenrechnen, dann repräsentiert er eigentlich eine Minderheit. Unser Ziel ist es jetzt, die Menschen bis zum 28. Mai aus der Starre zu lösen und sie erneut zu mobilisieren.» In Kadıköy konnte die TİP im ersten Wahlgang rund zehn Prozent der Stimmen holen; kein schlechtes Ergebnis für die 2017 gegründete Partei. In vielen Provinzen der Türkei stellte sie eigene Kandidat:innen auf, was ihr scharfe Kritik von ihrer Bündnispartnerin, der Yeşil Sol Parti, einbrachte. Doch diese Debatte, so sagen Vertreter:innen beider Parteien, werde erst nach dem zweiten Wahlgang wieder aufgenommen. Jetzt gehe es erst einmal darum, den gemeinsamen Kandidaten zu unterstützen.

Denn die Wahl zwischen Kılıçdaroğlu und Erdoğan sei eine Wahl zwischen denjenigen, die beim Erdbeben getötet wurden, und Erdoğans Dynastie, sagt Çelik. Eine Wahl zwischen Frauen, die mit dem Tod bedroht werden, und Erdoğan, der die frauenfeindliche Hizbullah über seine Parteilisten ins Parlament gebracht hat.

Auf ihrem Flugblatt macht die TİP deutlich: Es geht ihnen bei dieser Abstimmung nicht um den Sieg Kılıçdaroğlus, sondern um die Niederlage Erdoğans. «Auch in der ersten Runde haben wir Kılıçdaroğlu nicht deshalb unterstützt, weil er unser politisches Programm repräsentiert. Unser Hauptanliegen war, dass Erdoğan und seine Cumhur İttifakı verlieren. Damit die Gesellschaft und die Opposition wieder etwas Luft zum Atmen bekommen.» Hier auf den Strassen von Kadıköy kommt laut Çelik vor allem Kritik an den frauenfeindlichen Bündnispartnern der AKP – etwa der islamistischen Hüda-Par – gut an. Immer wieder applaudieren Passant:innen im Vorbeigehen.

Was ist denn das eigene Programm?

Den Schlüssel zum Erfolg in dieser entscheidenden Phase sieht Ünal Çelik in einem «aufrichtigen Auftreten» der Opposition: «Die Basis der AKP ist sehr überzeugt von ihrer eigenen Politik und ihren Führern. Ihr zu suggerieren: ‹Wir sind welche von euch›, wirkt da wenig überzeugend.» Stattdessen müsse die Opposition die Bevölkerung mit ihren eigenen Werten und ihrem eigenen Programm überzeugen. «Sonst denkt sich doch der AKP-Wähler: ‹Warum sollte ich die wählen, solange es den echten Erdoğan gibt?›»

Das eigene Programm – was ist das im Fall von Kemal Kılıçdaroğlu? Mit Blick auf seinen Wahlkampf in den vergangenen Wochen versammelt es eine breite Mischung an Forderungen und Versprechen, die das Ziel erkennen lässt, alle politischen Lager hinter sich zu vereinen – zumindest bis zu den Wahlen. Die Wiedereinführung des Rechtsstaats, ein gestärktes Parlament und eine stabile Wirtschaft wurden in den Wahlkampfreden immer wieder angeführt; begleitet von zu Herzchen geformten Händen – Zuneigung statt Aggression, wie man Letztere von der AKP gewohnt ist. Doch das konnte offenbar keine Mehrheit überzeugen.

Also änderte Kılıçdaroğlus Wahlkampfteam in der vergangenen Woche die Strategie. Schluss mit Nächstenliebe und «Alles wird gut»-Sprüchen, her mit dem Thema, das viele Gemüter in der Türkei erhitzt: Migration. Dass Kılıçdaroğlu nun die Abschiebung aller Geflüchteten verspricht, ist für ihn und seine Partei nichts Neues: Seit Jahren betreiben die kemalistische CHP und ihr Bündnispartner, die rechtsnationalistische Iyi-Partei, rassistische Hetze gegen Geflüchtete und kritisieren die Regierung für eine vermeintlich unkontrollierte Einwanderung.

Dass Kılıçdaroğlu damit die fehlenden Stimmen für seine Präsidentschaft von den rechtsextremen Gegenkandidaten holen will, ist klar. Doch wie positionieren sich die Linken und die Kurd:innen, die in der ersten Wahlrunde grosse Unterstützung für Kılıçdaroğlu bewiesen haben, zu dieser zugespitzten Strategie?

Demokratie auf minimalem Niveau

«Wir haben nie für die CHP gebürgt», sagt Sırrı Süreyya Önder, «die Alternative zur Rechten in der Türkei ist immer eine andere Rechte.» Der sechzigjährige Filmregisseur und Autor wurde vergangene Woche erneut ins türkische Parlament gewählt, als Abgeordneter der linken Yeşil Sol Parti. Zwischen 2011 und seiner Verhaftung 2018 sass er bereits für die prokurdische HDP und ihre Vorgängerorganisationen im Parlament.

Sırrı Süreyya Önder von der Yeşil Sol Parti
Sırrı Süreyya Önder, Yeşil Sol Parti

Dass Kılıçdaroğlu nun Stimmung gegen Geflüchtete macht, scheint für Önder zweitrangig: «Im politischen Programm der CHP spielte das Thema keine grosse Rolle. Vielleicht war es früher etwas weniger rassistisch als heute, aber es war nie dominierend. Was für uns jetzt zählt, ist der Wille zu einem demokratischen Wandel, wenn auch nur auf minimalem Niveau.» Dass sich die Opposition heute so äussere, wie sie es tue, sei auch das Ergebnis der letzten zwanzig Jahre unter der AKP-Regierung. Diese habe sich eine Opposition nach ihren Vorstellungen geschaffen, das sei der eigentliche Erfolg der AKP. Doch die Basis der Sozialdemokratie und der Linken sei in der Türkei grösser, als es aktuell scheine, meint Önder. «Nur zu kritisieren, dass sie den staatlichen Nationalismus verinnerlicht haben, und dies hinzunehmen, wäre eine apolitische Haltung. Wir wollen das eindämmen. Dafür werden wir sorgen.»

Kritik an Kılıçdaroğlu, Kritik an den eigenen Bündnispartnern – all das muss offenbar bis nach dem zweiten Wahlgang warten. Jetzt geht es darum, die eigenen Kräfte für die letzten Meter zu bündeln und gegen die Demoralisierung anzukämpfen, die sich nach der ersten Wahlrunde breitgemacht hat. Dazu hat die HDP in Kadıköy eine Veranstaltung organisiert, an der Önder auf einem Panel spricht. Unter dem Motto «Kein Raum der Hoffnungslosigkeit» haben sich am Samstagabend rund 200 Parteianhänger:innen versammelt. Die Abgeordneten sollen ihnen Mut machen.

«Es wird nicht alles gut, indem ich euch das verspreche», sagt Önder und spielt auf den Slogan des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu an. Mit dem Satz «Alles wird gut» hatte dieser 2019 einen erfolgreichen Wahlkampf in der türkischen Metropole geführt und konnte die AKP nach 25 Jahren im Rathaus ablösen. Demgegenüber sagt Önder: «Die Hoffnung liegt im Kampf.» Und der Kampf finde auch dann statt, wenn die Situation ausweglos erscheine. Mit Anekdoten aus seiner Zeit in Haft nach dem Militärputsch im September 1980 versucht er aufzuzeigen, dass ein starker Wille entscheidend sei, um sich gegen ein unterdrückerisches System zu wehren.

Stimmenfälschung und Hetze

Im anschliessenden Publikumsgespräch wird aber auch deutlich, dass die neuerlichen Äusserungen Kılıçdaroğlus einige Wähler:innen abgeschreckt haben. «In den kurdischen Gebieten haben wir ihn mit siebzig Prozent unterstützt», sagt eine Frau, die als Wahlhelferin für die Yeşil Sol Parti aktiv war, «doch statt einem Dank müssen wir uns nun diese nationalistischen Reden anhören.» Ihr Kommentar scheint allerdings inmitten der vielen Aufrufe, sich für die zweite Runde als Wahlhelfer:in registrieren zu lassen, um die korrekte Auszählung der Stimmen zu gewährleisten, unterzugehen.

Bei der ersten Wahlrunde kam es vielerorts zu Unstimmigkeiten zwischen den im Wahlbüro erfassten Stimmen und den anschliessend im digitalen System des Wahlrats regi­strierten Zahlen. Vor allem die grüne Linkspartei bemängelte, dass für sie abgegebene Stimmen zur faschistischen MHP geschoben worden seien, und legte Einspruch beim Wahlrat ein. Alle Oppositionsparteien mobilisieren deshalb noch einmal intensiv ihre Unterstützer:innen, um diese Art der Stimmenfälschung bei der Stichwahl zu verhindern.

Dass Präsident Erdoğan nun mit deutlichem Vorsprung in die Stichwahl geht, setzt die Opposition merklich unter Druck. In nur zwei Wochen genügend Unterstützung für Kılıçdaroğlu zu mobilisieren und selbst nicht die Hoffnung zu verlieren, ist keine leichte Aufgabe. Dass linke Parteien zudem offenbar kaum Einfluss auf die Agenda des Präsidentschaftskandidaten haben, auf den nun so viele ihre Hoffnung setzen, ist bedenklich.

Die grosse Mehrheit der türkischen Linken ignoriert das Thema Migration seit Jahren. Auch deshalb kann es jetzt so unwidersprochen als letzter Trumpf für den Stimmenfang im rechten Lager genutzt werden. Dass die aktuelle Hetze konkrete Auswirkungen für die rund vier Millionen Geflüchteten im Land haben könnte, scheint für grosse Teile der Opposition nicht wirklich von Interesse zu sein. Dabei müsste der demokratische Wandel, auf den alle hoffen, doch aus linker Perspektive auch einen demokratischen Wandel für Migrant:innen bedeuten – ansonsten werden sie ein Spielball nationalistischer Politiker:innen bleiben.