Vor der Stichwahl: Mit Niedertracht in die letzte Schlacht

Nr. 21 –

Grosse Versprechen, unfaire Mittel: Worauf Recep Tayyip Erdoğans erfolgreicher Wahlkampf basiert.

Die Absicht ist klar – und rassistisch: In seiner ersten öffentlichen Ansprache nach der Präsidentschafts- und Parlamentswahl kündigte Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu die Abschiebung aller Geflüchteten aus der Türkei an, sollte er im zweiten Wahlgang am 28. März gewinnen. Erdoğan habe, so behauptete Kılıçdaroğlu, zehn Millionen Geflüchtete ins Land gelassen. Eine aus der Luft gegriffene Zahl: Offiziell leben laut UNHCR rund vier Millionen Geflüchtete in der Türkei, davon 3,6 Millionen Syrer:innen. Mit seinem Versuch, im Becken der Rechten zu fischen, zielt CHP-Chef Kılıçdaroğlu auf die 5,2 Prozent der Wähler:innen ab, die für den Ultranationalisten Sinan Oğan gestimmt hatten.

Bei den Wahlen am 14. Mai musste Erdoğan das erste Mal nach zwei Jahrzehnten ernsthaft um seine Wiederwahl bangen. Umfrageinstitute hatten Kılıçdaroğlu im Vorfeld teils rund fünf Prozentpunkte vor dem Amtsverteidiger gesehen. Doch noch in der Wahlnacht wurde klar, dass keiner der Kandidaten die nötige Mehrheit erreicht hatte und es am kommenden Sonntag zu einer Stichwahl kommen würde. Dies hatte es in der Türkei zuvor noch nie gegeben.

Ultrarechte eher für Erdoğan

Bei dem Ergebnis von 49,5 Prozent für Erdoğan und 44,9 Prozent für Kılıçdaroğlu gelten die Stimmen des dritten Kandidaten als ausschlaggebend: Sie werden die Wahl nun entscheiden. Der rechtsextreme Oğan steht für eine flüchtlingsfeindliche Politik, auch deswegen wirbt Kılıçdaroğlu nun auf Plakaten für sich mit dem Slogan «Syrer. Werden. Gehen».

Wie zu erwarten war, stellte sich Oğan – trotz Kılıçdaroğlus Hetze gegen Geflüchtete – wenige Tage vor der Stichwahl deutlich hinter Erdoğan: «Ich rufe die Wähler, die im ersten Wahlgang für uns gestimmt haben, auf, im zweiten Wahlgang für Erdoğan zu stimmen», sagte er am Montag in einer im Fernsehen übertragenen Ansprache. Wie viel Einfluss diese Empfehlung auf das Wahlergebnis haben wird, bleibt offen, da Oğans Wählerschaft als zersplittert gilt.

Trotzdem: Im türkischen Parlament ist auch insgesamt ein Rechtsruck zu verzeichnen. Die AKP konnte gemeinsam mit der rechten MHP und weiteren kleinen Koalitionspartnern – dem Bündnis Cumhur İttifakı – eine Mehrheit erreichen. Zwar erhielt die Allianz knapp unter fünfzig Prozent der Stimmen. Aufgrund des Wahlsystems des Landes gelang es ihr jedoch, mit 322 von 600 Sitzen die Mehrheit in der Nationalversammlung zu behalten.

Aufseiten der Opposition konnte die ultranationalistische Iyi Parti ihre 43 Sitze behalten, die sozialdemokratische CHP ist mit 169 Sitzen vertreten. Die linke Opposition, repräsentiert durch die links-grüne Yeşil Sol Parti, konnte 61 Sitze erringen (vgl. «Etwas Luft zum Atmen»).

Durch das Bündnis mit Erdoğan gelang es der islamistischen Partei Hüda-Par, erstmals und mit vier Abgeordneten ins Parlament einzuziehen. Sie wird mit der türkischen Hizbullah in Verbindung gebracht, machte zuvor erheblich Stimmung gegen die LGBTIQ*-Bewegung und fordert nach Geschlechtern getrennten Schulunterricht.

Teure Wahlkampfgeschenke

Der Erfolg des rechten Bündnisses Cumhur İttifakı lässt sich unter anderem mit Erdoğans Wahlkampfgeschenken erklären: So wurde zuletzt innerhalb eines Jahres dreimal der Mindestlohn erhöht, die Rentenansprüche wurden ausgeweitet, und der Präsident versprach, die zerstörten Häuser in den Erdbebengebieten innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen. Wie all das finanziert werden soll, blieb freilich bisher unbeantwortet – zumal sich das Land noch immer mitten in einer schweren Wirtschaftskrise befindet.

Der schon zuvor unfaire Wahlkampf wird mit niederträchtigen Strategien fortgeführt. So zeigte etwa A Haber, ein Propagandasender der Regierung, die Grafik eines Wahlzettels. Darauf war nur Erdoğan abgebildet, Kılıçdaroğlu wurde schlichtweg als «der andere Kandidat» ohne Foto oder Namen gezeigt. Der Moderator deutete auf Erdoğan, während er das Publikum ermahnte, das Kreuz an der richtigen Stelle zu setzen. Andernfalls sei der Wahlzettel ungültig. Wie ungleich die Voraussetzungen für die Kandidaten in diesem Wahlkampf waren, zeigte auch eine Auswertung der Berichte des Staatsfernsehens TRT: Im April sollen dem Präsidenten rund 32 Stunden Sendezeit gewidmet worden sein – dem Oppositionsführer Kılıçdaroğlu dagegen lediglich 32 Minuten.

Erdoğan hat also gute Chancen, das Land für weitere fünf Jahre zu regieren. Dass es der Opposition trotzdem gelungen ist, ihn ernsthaft herauszufordern, wird nicht unvergessen bleiben. Deshalb ist davon auszugehen, dass das Regime die Repression abermals verschärfen wird. Es drohen fünf weitere kalte Jahre in der Türkei.