Videoex: «Der denkende Körper ist einer, der zittert»

Nr. 22 –

Die Brasilianerin Ana Vaz eröffnet in ihren Experimentalfilmen neue Perspektiven auf Kolonialismus und das Anthropozän. Zu entdecken sind sie jetzt am Videoex-Festival in Zürich.

Still aus der Videoarbeit «É noite na América»: eine Eule schaut direkt in die Kamera
Tiere erobern die Stadt: «É noite na América» spielt mit der Atmosphäre eines Thrillers, aber einen Plot sucht man hier vergebens. Still: Ana Vaz

So wirklich verlassen können wir die menschliche Perspektive ja nicht, was tragisch ist, denn es verunmöglicht einen unvoreingenommenen Blick darauf, was gerade passiert. Kunstformen wie das Kino bieten da Möglichkeiten, sich anderen Wahrnehmungsformen zumindest anzunähern, auch wenn das Kino seine Freiheiten nur selten wirklich auszunutzen wagt. Das Videoex, das sich seit 25 Jahren dem Kino «an der Schnittstelle von Film und Kunst» widmet, lässt Arten des Sehens zu, die im regulären narrativen wie auch dokumentarischen Kino kaum Platz finden. Und gerade wenn es etwa darum geht, ein schwer fassbares Konzept wie das Anthropozän nicht nur theoretisch, sondern auch affektiv erfahrbar zu machen, lohnen sich filmische Ereignisse, wie sie das Videoex bietet, umso mehr.

Im diesjährigen «Artist Focus» ist nun die experimentelle Filmemacherin Ana Vaz zu Gast, die ihren ersten Langfilm «É noite na América», der letzten Sommer in Locarno Premiere hatte, nebst einer thematisch gruppierten Werkschau in Zürich präsentiert. Was das Werk der Brasilianerin unter anderem so besonders macht, ist ein gleichwertiges Nebeneinander von theoretischer Tiefe und sinnlicher Erfahrung, wie es im Kino allzu selten zu haben ist. Das seien ohnehin keine voneinander trennbaren Dinge, insistiert sie dann auch im Gespräch mit der WOZ: «Diese Idee, dass es hier einen Körper und da den Geist gibt, kommt von Descartes, und ich empfinde sie als gewalttätig und komplett falsch.» Der denkende Körper sei immer auch einer, der fühle, reagiere, der sei und zittere und verstehe oder nicht verstehe.

Die Zeit als Spirale

Statt zu trennen, wird in Ana Vaz’ Filmen also wieder vereint, was schon immer zusammengehörte – manchmal innert fünf, oft binnen dreissig Minuten oder jetzt in «É noite na América» auch einer Stunde. Es geht um Gleichzeitigkeiten und darum, dass sich eine direkte Linie ziehen lässt zwischen der «Eroberung» Amerikas, der «Erfindung der Natur» und der jetzigen Zerstörung aller Lebensräume. Oder besser vielleicht: eine Spirale. «Das ist etwas, zu dem ich in all meinen Filmen gelangen will: dieses Konzept einer spiralförmigen Zeit, in der alles immer vorwärts und rückwärts zugleich abläuft.»

Ana Vaz, Filmemacherin
Ana Vaz, Filmemacherin

Was hier verwirrend klingen mag, ist im Idealfall genau das, was man in den Filmen von Ana Vaz plötzlich zu begreifen beginnt: dass die westliche Existenz, wie sie sich in den letzten 500 Jahren mit der gewaltsamen Inbesitznahme Amerikas etabliert hat, nicht vom Konzept des Anthropozäns zu trennen ist. Im Anthropozän sieht Ana Vaz «das Rückgrat der westlichen Moderne», wobei man diese Moderne auch mit dem Kolonialismus gleichsetzen könne: «Ich will in meinen Filmen nicht bloss die Geschichte betrachten, wie sie in den Büchern, in der Architektur, in der Sprache festgeschrieben ist. Sondern ich versuche zu zeigen, wie sie sich gewaltsam in die Landschaft selbst eingeprägt hat.»

Unwirklich die Nacht

So handelt «A idade da pedra» als surreale Collage von der Entstehung der Stadt Brasilia, und «Apiyemiyekî?» (Warum?) rekonstruiert mittels Zeichnungen die Geschichte der Quasi-Ausrottung der Waimiri-Atroari-Urbevölkerung beim Bau der Autobahn BR-174. Ana Vaz sieht ihre Filme als «Ausgrabungen einer Zeit, die von der offiziellen Geschichte ausgelöscht, begraben, nivelliert wurde». Damit gekoppelt ist für sie die Idee der Überlegenheit des Westens, die wiederum eng mit dem Anthropozän verflochten sei. Denn das Anthropozän gründe unter anderem auf dem «sehr gewalttätigen Konzept des menschlichen Exzeptionalismus», wonach der Mensch sich irgendwie getrennt von der «Natur» denken lasse – eine Fehlannahme, die jetzt auf uns zurückfällt und uns auszulöschen droht. Dabei gehe auch vergessen, dass jene Menschen und jene Lebewesen, die «aus dieser Festung der westlichen Moderne entfernt wurden, diese Trennung nicht durchgemacht haben». Und selbst wenn sich deren Wahrnehmung für uns nicht vollständig erschliessen mag: Eine der letzten Chancen liegt vielleicht darin, sich ihr anzunähern.

So gibt es denn in Filmen wie «É noite na América» auch keine Bedeutung zu entschlüsseln, Rätsel zu lösen oder Lektionen zu empfangen. Wir erfahren kaum etwas über die Tiere, die hier zurück in die Stadt Brasilia drängen, um nach Nahrung oder Unterschlupf zu suchen oder aber den Tod unter einem Autorad zu finden. Aber es findet eine Annäherung an dieses Andere und dessen Wahrnehmung statt. In den düsteren Bildern, auf der Tonspur, in den weit aufgerissenen Augen der Eule, auf dem Filmmaterial selbst erinnert das an einen Thriller – nur dass es ausser schattenhafter Bewegung keine Handlung, sondern bloss einen Zustand gibt. Dieser ergibt sich auch aus der Verwendung von abgelaufenem Filmmaterial und einem Filter, der wie im klassischen Western unwirklich die Nacht simuliert – eine immerwährende Nacht, die, wenn wir nicht aufpassen, vielleicht bald allzu real werden wird.

Das Videoex läuft noch bis Sonntag, 4. Juni 2023. Letzte Vorstellungen der Filme von Ana Vaz am Samstag/Sonntag, 3./4. Juni 2023. www.videoex.ch