Arbeitskämpfe im Iran: Eine Revolution braucht Zeit
Auf den Strassen ist es ruhiger geworden. Doch der feministische Aufstand hat eine neue Streikwelle entfacht, die so schnell nicht abflauen wird.
Auf dem Foto stehen sieben einfach gekleidete Männer neben dem Vater von Mahsa «Jina» Amini. Es ist wohl das einzige öffentliche Foto aus dem Wohnzimmer der Familie Amini, deren 22-jährige Tochter im September in Teheran verhaftet und von der Polizei zu Tode geprügelt wurde. Seitdem ist nichts mehr, wie es war: Aminis Beerdigung entfachte die Jina-Revolution, einen überwältigenden Aufstand gegen das iranische Regime.
Das Foto aus dem Wohnzimmer ist bedeutend: Es zeigt, wie die Arbeiter:innen auf der Seite der kurdischen Familie stehen und die Familie auf der Seite der Arbeiter:innen. Die sieben Männer gehören dem Haft-Tappeh-Syndikat an, der erfolgreichsten unabhängigen Gewerkschaft des Landes. Dies, obwohl unabhängige Gewerkschaften im Iran verboten sind.
Seit Aminis Tod kommt es im ganzen Land zu Streiks, vor allem in den kurdischen Gebieten. Diese Form des Widerstands ist im Iran erprobt: Seit der zunehmenden Privatisierung von Unternehmen 2014/15 streikt die Arbeiter:innenbewegung regelmässig; seit dem Winter 2016/17 werden die Streiks zudem – trotz Kriminalisierung – aus den Betrieben auf die Strasse getragen. Mittlerweile bleiben Geschäfte teils wochen- oder gar monatelang als Zeichen des Protests geschlossen.
Existenzielle Nöte
Die Gewerkschafter von Haft Tappeh, die Aminis Vater besucht haben, sind im gleichnamigen Unternehmen angestellt. Die Firma, die Zuckerrohr verarbeitet, wurde ebenfalls 2015 privatisiert – seitdem haben sich die Arbeitsbedingungen drastisch verschlechtert. Gehälter werden teils monatelang nicht ausbezahlt, was die Arbeiter:innen in existenzielle Nöte bringt. Im Januar berichtete die reformistische Zeitung «Etemad», dass pro Jahr im Schnitt jeden zwölften Tag ein:e Arbeiter:in Suizid begehe – Armut, Entlassungen und die prekären Arbeitsverhältnisse werden als Gründe angeführt.
Ende 2018 kam es bei den Gewerkschafter:innen von Haft Tappeh zu Razzien und mehreren Verhaftungen. Die meisten Arbeiter:innen kamen auf Kaution wieder frei, ausser Esmail Bachschi, Mitgründer und Sprecher der Gewerkschaft. Zudem wurde die feministische Aktivistin und Journalistin Sepideh Kolian festgenommen; sie hatte den Protest unterstützt und darüber berichtet.
Sowohl Esmail Bachschi als auch Sepideh Kolian berichteten von Folter in Polizeigewahrsam. Ihre Fälle sorgten im Iran für grosses Aufsehen, nicht zuletzt, weil Bachschi durch seine auf Social Media verbreiteten Reden Popularität erlangt hatte. Internationale Arbeiter:innenbewegungen von Ägypten über Haiti bis nach Frankreich solidarisierten sich mit den beiden Aktivist:innen und forderten deren Freilassung. Bachschi ist mittlerweile freigekommen. Kolian sollte im März nach vier Jahren Haft freigelassen werden, doch als sie bei ihrer Entlassung Parolen gegen das Regime rief, wurde sie erneut verhaftet.
Todesstrafe trifft viele Kurd:innen
Die aktuelle Streikwelle, ausgelöst durch Jina Aminis Tod, gründet auf der lang anhaltenden Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung. Bereits zu Zeiten der Monarchie wurden Kurd:innen strukturell benachteiligt, was sich unter dem islamistischen Regime ab 1979 fortsetzte. Kurd:innen sind laut den Statistiken von Menschenrechtsorganisationen im Iran am häufigsten von der Todesstrafe betroffen.
Seit Anfang des Jahres seien 640 Personen verhaftet worden, meldet die Menschenrechtsorganisation Hengaw, davon seien sechzig Prozent Kurd:innen und zwanzig Prozent Belutsch:innen. Gehängt wurden seitdem, ebenfalls laut Hengaw, über 240 Menschen, unter ihnen viele Kurdinnen und Belutschen. Die gewaltvolle Unterdrückung sogenannter ethnischer Minderheiten ist überdeutlich, zudem sind diese Bevölkerungsgruppen teilweise sehr arm. Wer verhaftet und hingerichtet wird, ist denn auch eine Frage des sozioökonomischen Status. Prominente können vergleichsweise leicht gegen Kaution freikommen oder je nach Vorfall durch Bestechung einer Verhaftung entgehen. Bei armen Menschen gibt es für das Regime nichts zu holen, sie entkommen den Hinrichtungen nicht.
Für den revolutionären Prozess sind die Proteste der Kurden und Belutschinnen elementar, da sie – wie die Streiks – ebenfalls andauern. Demgegenüber ist die Solidarität grosser Teile der Bevölkerung mit den kurdischen Kämpfen seit Beginn des Aufstands eine neue Entwicklung. Sie drückt sich mitunter im – von Abdullah Öcalan und der feministischen kurdischen Freiheitsbewegung geprägten – Leitspruch der Revolution «Jin, Jiyan, Azadî» (Frau, Leben, Freiheit) aus.
Gradmesser für gute Tage
Insgesamt ist es auf den Strassen des Iran ruhiger geworden. Es kann nicht erwartet werden, dass über eine so lange Zeit pausenlos demonstriert werden kann und die Repression des Regimes keine Wirkung zeigt. Die Mullahs gehen rigoros gegen alles vor, was ihnen unliebsam ist. Und lassen zu, dass andere es ihnen gleichtun, wie es beispielsweise die Berichte von Giftgasanschlägen vor allem auf Mädchen seit Monaten deutlich machen.
Trotzdem geht die Jina-Revolution weiter. In ihr kumuliert sich nicht nur die neue Solidarität mit kurdischen Kämpfen, sondern auch die Enttäuschung der «Grünen Revolution», der Demokratiebewegung von 2009. Viele, die die Bewegung damals miterlebten, erkannten, dass mit den Reformer:innen keine Veränderung eintreten wird; auch sie haben sich in den letzten Jahren immer wieder gegen das Regime und seinen Obersten Führer Ali Chamenei positioniert.
Den streikenden Arbeiter:innen geht es derweil längst nicht mehr nur um die Auszahlung ihres Lohns – auch sie fordern die Abschaffung des Regimes. Die Arbeiter:innenbewegung hat es geschafft, sich der protestierenden Zivilgesellschaft anzuschliessen und dort Anklang zu finden. Seitdem verfolgt auch die Diaspora die Streiks aufmerksam, deren Anzahl oft als Gradmesser für einen guten Protesttag gilt. Für das Jahr 2022 zählte die NGO Human Rights Activists in Iran über 600 Streiks.
Auch 1979 haben Streiks eine grosse Rolle bei der Revolution gespielt, doch sie waren von anderer Qualität: Allein ein Streik im November 1978 mobilisierte 37 000 Arbeiter:innen in den Ölraffinerien; er reduzierte die Produktion von 6 Millionen Barrel pro Tag auf 1,5 Millionen, was drastische Auswirkungen auf den Ölmarkt hatte. Damals hatten sich auch gut verdienende Basaaris, Kaufleute, dem Arbeitskampf angeschlossen und zum Erfolg der Revolution beigetragen. Die heutigen Streiks scheinen bislang kaum ein solches Ausmass anzunehmen, auch wenn in den letzten Jahren immer mal wieder in für die Wirtschaft wichtigen Industrien gestreikt wurde. Dies mag auch daran liegen, dass sich die materielle Situation der Bevölkerung seit Mitte der neunziger Jahre verbessert hat und die Mittelschicht gewachsen ist.
Ein Hauch von Freiheit
Die Revolution im Iran passiert nicht über Nacht; das war auch 1979 so. Im Grunde war das gesamte 20. Jahrhundert ein Kräfteringen zwischen Monarchiebefürworter:innen und antimonarchistischen Kräften. Eine Revolution von unten bei einem derart gefestigten Regime braucht Zeit, es sei denn, es passiert plötzlich etwas Unvorhersehbares.
In den vergangenen Tagen hat sich erneut ein Video aus dem Iran viral verbreitet, ein selten fröhliches. Es zeigt ein spontanes Zusammenkommen von Menschen bei Livemusik in Teheran. Ein Sänger mit Gitarre und Mikro singt das wunderbar kitschige Lied «Soltane Ghalbha», den Soundtrack eines bekannten Liebesdramas von 1968. Die Menge singt mit, einige tanzen. Das Video ist rührend, ein Hauch von Freiheit schwingt mit. Doch wer genau hinschaut, erkennt an der Kleidung der Mitsingenden, teils ohne Kopftuch, dass sie eher wohlhabend sind und sich diese Form des Widerstands leisten können, da sie mit weniger Konsequenzen rechnen müssen als arme Menschen.
Der revolutionäre Prozess ist in vollem Gang. Es wird weiter gestreikt werden, da sich die Situation der Arbeiter:innen kaum ändern und die Unterdrückung der Kurdinnen und Belutschen nicht aufhören wird. Es sind also Leute wie jene aus dem Video, die sich den Streikenden anschliessen müssen, wenn sie die Bedingungen für eine Revolution verbessern wollen.