Unter den Augen der Moralpolizei: Die Autokraten haben Angst vor freien Frauen

Nr. 39 –

Das iranische Regime geht seit Jahrzehnten hart gegen Frauen und LGBTIQ-Personen vor. Wer nicht den traditionellen Rollenbildern entspricht, muss mit Haft, Folter und drastischen Strafen rechnen.

Frauen nehmen ihre Kopftücher ab, schwenken sie trotzig in der Luft oder stecken sie in Brand: Im Iran ist eine landesweite Protestwelle ausgebrochen, Frauen und Männer fordern das Ende der Moralpolizei und die Abschaffung des Hidschabgesetzes, das vier Jahre nach der Islamischen Revolution 1979 eingeführt wurde.

«Die Proteste sind eine vereinte, landesweite Reaktion auf den Mord an Mahsa Amini», sagt Niloofar Rasooli, eine iranische Journalistin, die vor einem Jahr für ihr Doktorat in die Schweiz gezogen ist. Selbst in konservativen Städten, in denen es normalerweise keine Proteste gebe, seien die Menschen mit dem Slogan «Frauen, Leben, Freiheit» auf die Strasse gegangen. Die Iraner:innen, die unter der Repression und wirtschaftlicher Not litten, seien unglaublich wütend, so Rasooli. «Die Demonstrant:innen fordern keine Reformen, sondern einen kompletten Regimewechsel.» Es handle sich um eine feministische Revolution, sagt Rasooli, und das Regime fürchte sich.

Gefährliche Frauen

Nicht nur im Iran, sondern in vielen Ländern rund um die Welt fördern patriarchalische Autokraten die staatliche Kontrolle über den Körper von Frauen und deren gesellschaftliche und politische Unterordnung. «Frauen und sexuelle Minderheiten, die gegen dieses Weltbild aufbegehren, werden als Bedrohung für das autoritäre System wahrgenommen oder als solche dargestellt», sagt Samer Anabtawi, der am University College London zu queeren und sozialen Bewegungen im Nahen Osten forscht. «Die Forderung nach individuellen Rechten – seien es Frauenrechte oder das Recht, die eigene Sexualität zu leben – wird von autoritären Regimes als gefährlicher Individualismus betrachtet, der mit westlichem Einfluss verbunden ist und damit die nationale Souveränität bedroht», führt Anabtawi aus. Dies gelte vor allem für ein Regime wie das im Iran, das seine Legitimität aus einer kollektivistischen Ideologie ableite. «Das Regime will deswegen, dass die Gesellschaft individuelle Rechte als Bedrohung für das Kollektiv betrachtet», so Anabtawi weiter. «Somit werden diese Menschen als ‹fünfte Kolonne› dargestellt, die den Interessen ausländischer Akteur:innen dienen und nicht zum iranischen Staat und seiner Tradition, Kultur und Religion gehören.»

Die Frauen galten bisher als einfach zu unterdrücken – aber vielleicht nicht dieses Mal?

Das iranische Regime fürchte sich vor diesen Menschen, weil sie die Courage hätten, die vom Regime verordnete gesellschaftliche Ordnung infrage zu stellen, sagt Schadi Amin, Direktorin der Organisation 6Rang mit Sitz in Deutschland, die sich für die Rechte von LGBTIQ-Personen im Iran einsetzt. Das Regime versuche seit 43 Jahren, die Figur der «idealen iranischen Frau» vorzugeben – also einer Frau, die sich dem Mann unterordne und eine gute Mutter und Ehefrau sei, so Amin. Annabelle Sreberny vom Zentrum für Iranstudien an der Londoner School of Oriental and African Studies ergänzt: «Wann immer das Regime das Gefühl hat, die Kontrolle über die Gesellschaft zu verlieren, zielt es auf Frauen ab.» Diese hätten bisher als «leichte Ziele» und einfach zu unterdrücken gegolten – aber vielleicht nicht dieses Mal, sagt Sreberny.

«Heimliche Freiheit»

So dauert der Kampf gegen die Kopftuchpflicht und für Frauenrechte schon seit Jahrzehnten an, hat aber in den letzten Jahren durch Social Media an Aufmerksamkeit gewonnen. 2014 beispielsweise lancierte die in den USA im Exil lebende Aktivistin Masih Alinedschad die Kampagne «My Stealthy Freedom», bei der sie iranische Frauen dazu aufrief, mit ihr Bilder ihrer «heimlichen Freiheit» ohne Hidschab zu teilen. Tausende Frauen haben sich der Kampagne angeschlossen, und Alinedschad hat Videos und Fotos von ihnen ohne Hidschab auf Instagram, Facebook und Twitter veröffentlicht. Die beiden Letzteren sind im Iran blockiert, doch mithilfe virtueller privater Netzwerke haben viele Iraner:innen die Bilder trotzdem gesehen und wurden Zeug:innen des Mutes ihrer Mitbürgerinnen. 2019 entschied der Revolutionsgerichtshof in Teheran, dass das Versenden eines Videos an Alinedschad eine Straftat darstellt, die mit bis zu zehn Jahren Gefängnis geahndet werden kann.

 

 

Gemäss dem unabhängigen Rechercheinstitut Gamaan in den Niederlanden, das Umfragen im Iran durchführt, lehnten vor zwei Jahren 72 Prozent der Bevölkerung die Hidschabpflicht ab. Trotzdem seien seit 1979 Hunderttausende Frauen verhaftet, eingesperrt oder gefoltert worden, weil sie sich nicht an die Kleidervorgaben gehalten hätten, sagt Fariba Parsa, Iranexpertin bei der Denkfabrik Middle East Institute in Washington. «Der obligatorische Hidschab ist ein Instrument zur physischen Kontrolle der Körper von Frauen und zur Aufrechterhaltung traditioneller Rollenbilder», sagt Parsa. Damit kontrolliere das Regime schlussendlich die ganze Gesellschaft.

Todesstrafe wegen Homosexualität

Die traditionelle Familienstruktur sei eine zentrale Säule des iranischen Systems, sagt auch Schadi Amin von 6Rang. Die Ablehnung dieser Struktur durch Frauen und LGBTIQ-Personen sei ein fundamentaler Angriff auf die männliche Elite und deren geschlechtsspezifische Vorstellungen von Macht und Kontrolle. Deswegen zwinge der Staat beispielsweise homosexuelle Männer des Öfteren dazu, sich einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen, ergänzt Anabtawi vom University College London. Diese wurden Mitte der achtziger Jahre von Ajatollah Chomeini für mit dem Islam vereinbar erklärt. «Auf diese Weise wird die genderbinäre Ordnung aufrechterhalten und das angebliche ‹Problem› vermeintlich gelöst.»

Trotz alledem ist die iranische LGBTIQ-Gemeinschaft in den letzten Jahren immer sichtbarer geworden, vor allem Jugendliche sind durch das Internet besser informiert und tauschen sich untereinander aus. Aus diesem Grund hat aber auch ihre Verfolgung durch neue Gesetze, Verhaftungen und Strafen stark zugenommen. Bekannt ist etwa der Fall von Sareh Sedighi-Hamedani und Elham Chobdar, die kürzlich aufgrund des Vorwurfs der «Verbreitung der Korruption auf der Erde» – ein Vorwurf, der in die Kategorie des organisierten Verbrechens fällt – und «Werbung für Homosexualität» zum Tode verurteilt wurden.

Klandestines Leben

«Das Regime fürchtet sich nicht zuletzt deshalb vor der LGBTIQ-Bewegung, weil sie radikal ist», sagt Schadi Amin von 6Rang. Auch oppositionelle Journalist:innen oder Anwält:innen würden vom Regime verfolgt, so Amin, doch diese Menschen könnten zumindest im Privatleben eine Form der Sicherheit finden, indem sie eine Familie gründeten und mit einer Person zusammenlebten, die sie liebten. «LGBTIQ-Personen aber müssen sich ein Leben lang verheimlichen und leben in ständiger Angst vor Ablehnung und Verhaftung.» Das mache die Bewegung radikal, denn für sie gebe es nur eine Zukunft, wenn sich das ganze System ändere.

Dies bestätigt auch Niloofar Rasooli: «Vierzig Jahre lang hat das Regime die Existenz von queeren Menschen verleugnet oder sie mit brutalen Massnahmen und Strafen zu unterdrücken versucht.» Dies habe nicht funktioniert. LGBTIQ-Personen, Frauen, Kurd:innen, sie alle wollten ihre Identität ausdrücken. «In dem Moment, in dem Menschen anfangen, sich kollektiv und öffentlich zu äussern, fühlt sich das Regime bedroht», sagt Rasooli.