Ein Traum der Welt: Zwischenländer?
Annette Hug sammelt Wortschöpfungen

«Um allen Missverständnissen vorzubeugen: das Wort Migration hängt nicht mit Migros zusammen», beginnt Zsuzsanna Gahse einen «Instabilen Text». Er ist 2005 erschienen, und seither sind die Missverständnisse nicht kleiner geworden. Migration heisse Wanderung, schreibt Gahse, das klingt manchmal nach Sessellift, manchmal nach Ein- und Auswandern. «Herbeiwandernde» durchkreuzen das, was Inland von Ausland unterscheiden könnte. In Gahses «Südsudelbuch» (2012) pocht sehr viel Wut in den Sätzen, die mich oft zum Lachen bringen, besonders dann, wenn ein Freund Tokoll auftaucht, in einer Hotelhalle am Rand einer Tagung, und sich das Gespräch über Magenverstimmung, Ortsveränderung, Unverträglichkeiten und Weltgeschichten dreht, das wird persönlich, «das sagten wir beide und haben die Tagung mit dem Titel Migration und Gegenwart in diesem Sinn in Joghurt umbenannt».
Persönlich ist das Buch nicht nur da, wo die eigene Flucht aus Ungarn zur Sprache kommt, sondern gerade dort, wo von Unbekannten die Rede ist, die im Mittelmeer ertrinken – wofür es ganz anderer Worte bedürfte, weil das mit Wanderungen nichts mehr gemein hat.
Im Gespräch mit Tokoll werden vorsichtig «Keinländer» benannt. An einer anderen Stelle stehen die «Einländer» den «Mehrländern» entgegen, und diese Wortschöpfungen klingen an, wenn ich «Wahrscheinliche Herkünfte» (2023) von Ivna Žic lese. Der Theatermacherin und Schriftstellerin schwebt eine neue Selbstverständlichkeit vor. Dass es nicht mehr als unüblich gilt, dass Aussprachen unterschiedlich klingen und Menschen sich bewegen. Aus dem «Einbürgern» wird hier, in Anlehnung an den queeren Autor Paul Preciado, ein «Sicheinbürgern», wobei das Ivna Žic nicht genügt, sie will Vielheiten. «Dazubürgern» wäre ein schönes Wort, schreibt sie: «Nicht ein- oder aus-. Nicht sich. / Sondern alles rundherum: dazu und dazu und dazu.»
Bei Zsuzsanna Gahse und Ivna Žic bewegen sich die Wortschöpfungen immer weiter, sie verfestigen sich nicht. Ich bringe sie mit einer Beobachtung des Historikers Andreas Zangger in Verbindung. Er hat die «Schweizerkolonien» in Südostasien studiert und benennt ein interessantes Phänomen: Von den «Auswanderern» sind die «Schweizer im Ausland» zu unterscheiden. Letztere kommen irgendwann zurück und legen in der Schweiz alles ab, was an ihr Leben in Singapur, Jakarta oder Manila erinnern könnte. Sie werden wieder absolut einheimisch. So wie es in Schweizer Tageszeitungen nur eine grosse Kategorie «Ausland» gibt, so verschwinden auch die Namen der Orte, an denen sie einen Teil ihres Lebens verbracht haben. Bilder und Geschichten dafür, dass Tausende von Textilhändlern, Ehefrauen, Plantagenbesitzer:innen, Transithändlern und Forscher:innen in Asien, Afrika und Amerika den industriellen Aufschwung der Schweiz ermöglichten – das bleibt im öffentlichen Selbstbild unsichtbar.
Dass Leute in ganz unterschiedlicher Weise kommen und gehen, mit extrem unterschiedlichen Finanzmitteln, Schwierigkeiten und Konsequenzen, dass sich ihr Leben in verschiedenen Sprachen abspielt: Eine solche Selbstverständlichkeit hat sich nicht durchgesetzt, denn irgendwie spielt ein einfältiges Selbstbild mit der nebligen Kategorie «Schweizer im Ausland» und rigider Einbürgerung zusammen.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und fühlt sich zu mehrländischer Literatur hingezogen, zum Beispiel zu den Büchern von Zsuzsanna Gahse und dem aktuellen Band «Wahrscheinliche Herkünfte» von Ivna Žic.