Auf allen Kanälen: Lügen für den Chef
Kein grosser Knall, aber eine detailreiche Arbeit: Der achtteilige Podcast «Boys Club» beleuchtet das System Axel Springer und den Machtmissbrauch bei der «Bild»-Zeitung.
Bei manchen liegt sie jeden Morgen auf dem Frühstückstisch, anderen würde sie niemals ins Haus kommen. Die «Bild», Deutschlands auflagenstärkste Zeitung und Europas grösste Boulevardzeitung, wird seit jeher kritisiert: vor allem für ihre Berichterstattung, seit ein paar Jahren auch für ihre Unternehmenskultur.
Im März 2021 schreibt der «Spiegel», dass sich der damalige Chefredaktor Julian Reichelt einer Untersuchung im eigenen Haus stellen muss. Vorgeworfen werden ihm Verhältnisse mit jungen Mitarbeiterinnen, das Ausnutzen von Abhängigkeiten und die Beförderung einer toxischen Firmenkultur. Er streitet alles ab. Ein paar Monate und einige Recherchen später muss er seinen Posten räumen.
Laut den Journalistinnen Pia Stendera und Lena von Holt ist Reichelt allein nicht das Problem. Sie sehen ein System hinter ihm, das Machtmissbrauch befördert, Täter schützt und Opfer kleinhält. Wie das funktioniert, wollen die beiden mit ihrem Team im Podcast «Boys Club. Macht & Missbrauch bei Axel Springer» herausarbeiten. Es ist der erste Recherchepodcast von TRZ Media, der Produktionsfirma von Hanna Herbst, Robin Droemer und Jan Böhmermann, wobei Letzterer mit dieser Produktion inhaltlich nichts zu tun gehabt haben soll.
Ein Jahr Recherche
Stendera und von Holt führen als Hosts durch die Episoden, für die sie laut eigenen Aussagen über ein Jahr lang recherchiert und mit rund vierzig ehemaligen Mitarbeiter:innen des Springer-Konzerns gesprochen haben. Erstmals hören wir hier eine der mutmasslich Betroffenen sprechen, allerdings unter falschem Namen und mit verfremdeter Stimme. «Nora» erzählt, wie sie Reichelt in einer Bar kennenlernt, sie beginnen ein Verhältnis, er holt sie zu Springer. Später wird sie im Complianceverfahren für ihn lügen. Sie sagt: «Ich habe nicht verstanden, dass es da ein System gibt.»
Der Veröffentlichungszeitpunkt des Podcasts scheint nicht zufällig. Mitte April veröffentlicht die «Zeit» geleakte SMS und E-Mails von Springer-Chef Mathias Döpfner. Sie verdeutlichen sein rechtes Weltbild und seinen Wunsch, die Bundespolitik zu beeinflussen. Eine Woche später wird Benjamin von Stuckrad-Barres Roman «Noch wach?» erscheinen, der als Schlüsselroman zu #MeToo bei Springer aufgenommen wird. In dieser Zeit gehen die ersten zwei Episoden des Podcasts bei Spotify online. Auch deswegen sind die Erwartungen an den Podcast hoch. Man erwartet eine Investigativrecherche mit dem Potenzial, das System und die mächtigen Männer Springers zu Fall zu bringen. Doch nach acht Episoden ist klar: Der grosse Knall bleibt aus.
Haus der Hürden
Statt einer Enthüllungsstory ist «Boys Club» eine detailreiche Aufdröselung des Springer-Konzerns. Die Erzählungen der mutmasslichen Opfer stehen im Vordergrund, sie werden mit hintergründigen Aspekten unterfüttert: von der Entstehungsgeschichte des Verlags und dem Widerstand in den sechziger Jahren bis zur heutigen Arbeit und der Bedeutung der hausinternen Axel-Springer-Akademie. Anhand der Geschichte des Geflüchteten Alassa Mfouapon wird deutlich, welch perfide Mittel die «Bild» nutzt, um Schlagzeilen zu generieren. In Gesprächen mit ehemaligen Mitarbeiter:innen wird klar, wieso sich so viele mit ihrem Arbeitgeber überidentifizieren und wie schwer es ist, sich gegen ihn zu wehren. Nach aussen gibt der Konzern eine zugewandte Unternehmenskultur vor, doch intern stösst eine Reporterin auf Hürden, als sie Beschwerde gegen einen Kollegen einreicht.
Mit ihrer detailreichen Arbeit gelingt es Stendera und von Holt, niedrigschwellig eine Chronik von einem der mächtigsten Medienkonzerne der Welt zu zeichnen. Obwohl bis zum Schluss nicht genau klar wird, wie gross denn nun eigentlich dieser «Club» ist und wer alles dazugehört, arbeitet der Podcast genaustens heraus, wie Dynamiken entstehen und funktionieren, die Machtmissbrauch fördern.
Zum Abschluss erzählen Pia Stendera und Lena von Holt, wie viele Menschen sich nach der Veröffentlichung der ersten Folgen bei ihnen gemeldet haben, darunter auch weitere mutmasslich Betroffene. Gut möglich also, dass «Boys Club» nach acht Episoden noch nicht zu Ende erzählt ist. Und vielleicht kommt er dann ja doch noch, der grosse Knall.