Auf allen Kanälen: Rundum toxisch
Ein Artikel in der «New York Times» brachte den Chefredaktor der deutschen «Bild»-Zeitung zu Fall. Am aggressiven Rechtskurs des Springer-Konzerns wird das nichts ändern.
Die Meldung war auf Seite 1 der «New York Times», die deutschen Abendnachrichten brachten sie, und Twitter war wie so oft geteilt, dieses Mal in linke Erleichterung und neurechte Weinerlichkeit: Julian Reichelt, verspiegelte Brille, Feldbett im Office und Chefredaktor der «Bild»-Zeitung, wird von seinen Pflichten entbunden, wie das dann so gestelzt heisst; man könnte auch sagen: Einer geht, das System bleibt.
Denn wenn etwas deutlich geworden ist in der Affäre Reichelt, die sich schon eine Weile hinzieht, dann das: Im deutschen Springer-Konzern, der unter anderem die «Bild» herausgibt, herrscht ein Gardegeist, der ein Reservoir für Ressentiment und reaktionäres Denken bietet; eine durch #MeToo ungebrochene Frauenverachtung; und eine Einschüchterungsmacht im freien Feld des Journalismus, die bis an die Grenzen der Pressefreiheit geht und darüber hinaus.
Was ist passiert? Schon vor Monaten berichtete der «Spiegel» von Vorwürfen gegen Reichelt; es ging um Sex, Drogen, Machtmissbrauch – und nachdem interne Ermittlungen die Vorwürfe weitgehend bestätigt hatten, wurde der 41-Jährige einfach weiter im Amt belassen, leicht düpiert durch eine Stellvertreterin, die ihm an die Seite gestellt wurde. Am Wochenende nun veröffentlichte der Medienkolumnist der «New York Times», Ben Smith, ausführlich neue Vorwürfe gegen Reichelt, gespickt mit abgründigen Zitaten und weiteren Informationen – etwa dass der Verleger Dirk Ippen Investigativjournalist:innen seines Medienkonglomerats untersagt hatte, Recherchen über Reichelt und Springer-Chef Mathias Döpfner zu veröffentlichen.
Bis einer über den Ozean brüllt
Dann ging es schnell. Der Umweg über die USA zeigte nicht nur, dass das deutsche Mediensystem erst aufwacht, wenn jemand über den Ozean brüllt – es zeigte sich auch, dass die Expansion Springers in die USA ihr erstes Opfer gefordert hat. Denn die Aufmerksamkeit der Kolleg:innen dort lässt sich vor allem damit erklären, dass der deutsche Konzern – angetrieben vom Investor KKR, der knapp vierzig Prozent an Springer hält – für eine Milliarde Euro die einflussreiche US-Publikation «Politico» gekauft hat und weitere Begehrlichkeiten bekundet, etwa für das erfolgreiche Newsletterportal «Axios».
Es gibt aber keinen Grund, aufzuatmen, denn die Affäre enthüllte Interna aus dem Springer-Konzern, die deutlich machen, dass sich hier eine rechte Gegenmacht zur neuen Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP bildet – ähnlich verloren und verzweifelt wie die CDU, die nach der Niederlage bei der Bundestagswahl um Sinn und Sein ringt und erste Anzeichen zeigt, dass der Kurs nach rechts geht. Die Wahlkampagne der CDU, die Ängste vor einem neuen Sozialismus zu schüren versuchte, spiegelt sich im Zitat von Mathias Döpfner wider, wonach Reichelt der letzte Journalist sei, «der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat aufbegehrt» – in Substanz und Diktion genau das, was von AfD bis zu Coronaleugner:innen gesagt wird.
Was das bedeutet: Es gibt nicht nur eine destruktive Unternehmenskultur bei Springer, wo Sexismus geschützt wird; es gibt auch eine inhaltliche Vorgabe von ganz oben, die journalistische Unabhängigkeit einschränkt – bei genau denen, die allerorten eine «Cancel Culture» zu erkennen glauben. Es bedeutet auch, dass sich hier eine – durch Interessen und Marktanalysen angetriebene – Diskursverschiebung abzeichnet, die sich auch von Reichelts Abgang nicht aufhalten lassen wird. Die neue Fernsehpräsenz von «Bild» ist schon einmal sehr deutlich Fox News nachempfunden.
Ressentiments ohne Ende
Das wird das Fundament einer publizistischen Gegenmacht bilden, die sich alter Ressentiments bedient: gegen eine «Elite», die links ist und «von den Menschen» nichts weiss, gegen Marginalisierte und für «das Volk», gegen Medien, die nicht «die Wahrheit» sagen, gegen einen Staat, der «Verbote» will, gegen Klimagerechtigkeit, gegen höhere Steuern und Benzinpreise, gegen, gegen, gegen – das destruktive Boulevardprinzip, angereichert durch digitale Macht eines expansiven Konzerns, gepusht von Risikokapital, das seine Rendite will.
Wenn also die Unternehmenskultur nach innen schon toxisch ist, warum sollte dann die Unternehmenspraxis nach aussen weniger toxisch sein?