Auf allen Kanälen: Rundum paranoid
Neue Enthüllungen zum Fall des früheren «Bild»-Chefredaktors Julian Reichelt zeichnen ein haarsträubendes Bild vom Innenleben eines der mächtigsten Medienkonzerne der Welt.
Der Axel-Springer-Konzern, Flaggschiff rechtskonservativer Meinungsmache in Deutschland, ist schwer in Schieflage geraten. Erst war da die Aufregung um Ulf Poschardt, Chefredaktor des Springer-Blatts «Welt»: In einem Meinungsbeitrag von Poschardt war in der Onlineversion die Rede von «super Holocaust-Überlebenden und deren PR-Abteilungen». Nach einem Entrüstungssturm entschuldigte sich die «Welt» und erklärte die betreffende Formulierung damit, dass beim Onlinestellen des Artikels Textfragmente durcheinandergeraten seien – eigentlich sollte es an der Stelle gegen «superlinke Aktivisten» gehen. Trotzdem war die Affäre peinlich für Zeitung und Verlag.
Weitaus rufschädigender für den Springer-Konzern ist allerdings das, was dann die «Financial Times» publik machte. Die britische Zeitung hatte die Umstände recherchiert, die im Oktober zur Entlassung von «Bild»-Chefredaktor Julian Reichelt geführt hatten. Gegen diesen waren monatelang Vorwürfe im Raum gestanden, er habe seine Macht missbraucht und sexuelle Beziehungen mit von ihm protegierten Mitarbeiterinnen geführt – ein #MeToo-Skandal in einem der mächtigsten Medienhäuser der Welt. Im März 2021 gab es deswegen ein internes Ermittlungsverfahren. Reichelt wurde freigestellt, durfte aber wieder auf seinen Posten zurück. Erst als die «New York Times» im Herbst weitere Einzelheiten enthüllt hatte, feuerte der Springer-Vorstand Reichelt und erklärte, man sei von diesem getäuscht worden.
Sehr genau im Bild
Die «Financial Times» fand nun aber heraus, dass die Konzernspitze um den Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner in Wahrheit sehr genau darüber im Bilde war, wie gravierend die Vorwürfe gegen Reichelt waren – und das schon lange vor dessen Abgang. Die Springer-Chefs entschieden sich jedoch, ihn zu schützen und öffentlich Halbwahrheiten zu verbreiten.
So wurde Reichelt während der Untersuchung über deren Stand auf dem Laufenden gehalten, was ihm ermöglichte, Zeug:innen zu identifizieren. Er kontaktierte sogar die Mutter einer der Frauen, die gegen ihn ausgesagt hatten. Nicht minder haarsträubend: Laut «Financial Times» hegte Döpfner keinerlei Zweifel an der Verteidigungsstrategie Reichelts, der sich bis heute zum Opfer einer Verschwörung und einer rachsüchtigen Exfreundin erklärt. Gegenüber Mitarbeitenden soll auch Döpfner von einer «blinden Hasskampagne» gesprochen und angemerkt haben, dass man einen genaueren Blick auf die ominöse Exfreundin werfen müsse. Er veranlasste sogar eine weitere Untersuchung, die Hintermänner der angeblichen Intrige ins Visier nehmen sollte. Unter diesen vermutete man den Satiriker Jan Böhmermann.
Es ist also ein geradezu aberwitziges Bild, das der Konzern abgibt: Dort glaubt man offenbar lieber absurden Verschwörungserzählungen als Mitarbeiterinnen, die von Missbrauch berichteten. Gerade deshalb aber ist die Affäre aufschlussreich für den Kulturkampf, den rechte Medien nicht nur in Deutschland schon seit Jahren führen. Man inszeniert sich dort nicht nur als wackeren Widerstandstrupp gegen eine erdrückende «linke Meinungshoheit» und deren Agent:innen, sondern man glaubt tatsächlich der eigenen Propaganda.
Wahnwitz als Geschäftsmodell
Dafür spricht auch eine schon länger bekannte private Textnachricht Döpfners, in der er Deutschland als «neuen DDR-Obrigkeitsstaat» bezeichnete. Angesichts der realen politischen Kräfteverhältnisse zeugt das von einem fortgeschrittenen Stadium politischer Paranoia. Der Wahnwitz ist aber Geschäftsmodell: Er bestimmt das interne «Krisenmanagement» offenkundig genauso wie die Linie der wie ab Fliessband verfassten Meinungstexte, die vor der linken Diskursmacht und der daraus resultierenden «Cancel Culture» warnen. Um Letztere war es auch in dem verunglückten Kommentar des «Welt»-Chefredaktors gegangen.
Für Döpfner dürfte die Sache dennoch glimpflich ausgehen. Er hält 22 Prozent der Anteile des Springer-Konzerns, kann also nicht einfach seines Postens enthoben werden. Er könnte aber sein Amt als Präsident des deutschen Verleger:innenverbands verlieren; erste Verlagshäuser erklärten ihn bereits als in dieser Funktion untragbar. Zumindest dürfte sich der mächtige Medienmanager dann auch persönlich als Opfer linker Machenschaften fühlen.