Literatur: Der Minister und die Kunst der Fuge
Emmanuel Macrons Wirtschaftsminister schreibt in seiner Freizeit Romane, die sogar von der linksliberalen «Libération» gelobt werden. Nun versucht er sich auf den Spuren von Thomas Bernhard.
Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister hat einen Roman veröffentlicht, es ist sein zweiter beim prestigeträchtigen Gallimard-Verlag. «Fugue américaine» handelt von zwei Brüdern im Zeitraum zwischen 1949 und 1963. Durch Zufall lernen Oskar und Franz den Klaviervirtuosen Vladimir Horowitz kennen. In New York, wo alle drei leben, wird Oskar im Lauf der Jahre zum Vertrauten und Seelendoktor des Pianostars. Dank der Publizität, die ihm der illustre Patient verschafft, erwirbt der Psychotherapeut eine gehobene Klientel, der er «skandalöse Honorare» abverlangt. Franz hingegen, durch Horowitz’ unerreichbares Klavierspiel entmutigt, hängt seine stotternde Karriere als Konzertpianist an den Nagel.
Nachdem er als Immobilienmakler ebenfalls gescheitert ist, zieht sich Franz, geschieden und ohne Geld, aufs Land zurück. Nach seinem Suizid findet man an die 10 000 Briefe, die er in den letzten Jahren seiner geistigen Zerrüttung an lebende wie tote Adressaten gerichtet hat. Unter ihnen auch der verhasste Horowitz – dem seinerseits wenig später nach schwerer Depression und zwölfjähriger Bühnenpause ein fulminantes Comeback gelingt.
Schlechtes Timing
Die Rezeption des neuen Romans von Bruno Le Maire in Frankreich ist kurios. Eine läppische Polemik betraf eine Sexszene, eine legitimere den Zeitpunkt der Veröffentlichung. Das Land steckt in einer durch die jüngste Rentenreform ausgelösten Sozialkrise, die Staatsschulden haben unlängst die Marke von 3000 Milliarden Euro überschritten. Le Maire, der schon unter Nicolas Sarkozy ein Ministeramt bekleidete, ist seit sechs Jahren im Amt und hat in dieser Zeit ebenso viele Bücher veröffentlicht – sollte nicht seine ganze Arbeitskraft im Dienste des Staates stehen? Heikle Frage: Jede:r hat das Recht auf ein Privatleben – und der schriftstellernde Minister stellte klar, dass zwei Dinge für ihn nicht zur Verhandlung stünden: «Zeit mit Familie und Freunden verbringen und mich meiner Leidenschaft widmen.»
Auffällig ist, dass die meisten Zeitungen sich lieber mit den erwähnten Polemiken auseinandersetzen als mit Inhalt und Qualität des Romans. Werturteile muss man sich so aus anderen Gefässen zusammensuchen als aus regulären Rezensionen. «Le Figaro», der keine Gelegenheit auslässt, sich bei rechten Spitzenpolitikern anzubiedern, schwärmte in einer Kolumne, Le Maire habe «den grossen Roman der verlorenen Illusionen verfasst». Die «Libération» wiederum lobte den Minister, massvoller, in einem Porträt für seinen «sehr guten, mit nervöser Feder geschriebenen Roman, dessen Klassizismus durch kursiv gesetzte Sätze auf Deutsch oder Englisch ins Wanken gebracht wird».
Was vor allem wankt, ist jedoch die literarische Konstruktion. Wie viele Sonntagsautor:innen, deren Material zu schwach ist, um eine vielhundertseitige Fiktion zu tragen, setzt Le Maire auf Füllmaterial. Das sind, erstens, viel zu viele Beschreibungen, die gelegentlich Stimmung erzeugen, meist aber nur Verstimmung ob der Überlast an Attributen. Zweitens nährt der Autor seinen Roman mit Details aus dem Leben der darin angeführten realen Berühmtheiten. Diese «détails vrais» verfehlen indes ihren Zweck, den historischen Hintergrund zu beglaubigen, strotzen sie doch – gerade im Fall von Horowitz – vor faktischen Fehlern. Drittens unterfüttert der Autor sein Werk mit (geo)politischen Betrachtungen, die wenig mit dem Stoff des Romans, viel jedoch mit Le Maires Brotberuf zu tun haben, über Xi Jinpings China und Wladimir Putins Russland oder über die Spezies des Homo politicus.
Was sich aus dem Wust an Füllmaterial heraussezieren lässt, ist ein mageres erzählerisches Skelett, das sich eng an Thomas Bernhards Roman «Der Untergeher» anlehnt. Auch dort geht es um drei Männer, von denen einer an der Begegnung mit einem Klaviergenie zugrunde geht, während der Dritte als Ich-Erzähler die Geschichte erinnert. Bernhards zentrale Themen finden sich in verwässerter Form bei Le Maire wieder: Sterben und Überleben, Streben nach künstlerischer Vollkommenheit und die Gefahr des Scheiterns, die dieses birgt. Die Brüder in «Fugue américaine» tragen sogar denselben Familiennamen wie die Titelfigur des «Untergehers»: Wertheimer.
Mehr gesucht als gefunden
Thomas Bernhard zählt zu Le Maires Lieblingsautoren, neben Pascal und Proust, Kafka und Musil. Der Minister kennt und liebt die deutschsprachige Literatur, die Liste der Autor:innen, die er bewundert, reicht von Goethe bis Grass, von Kleist bis Sebald, von Hölderlin bis Jelinek. Mit Peter Handke soll er persönlich bekannt sein, wie auf französischer Seite mit Michel Houellebecq. Dessen Wirtschaftsminister mit Vornamen Bruno aus dem Roman «Vernichten» (2022) ist frei von Le Maire inspiriert.
Ein Minister Sarkozys und Macrons, der die deutschsprachige Literatur schätzt, dessen Herz für klassische Musik schlägt und für den Schreiben eine Lebensnotwendigkeit darstellt – das weckt Neugier. Doch ach, Le Maires «Fugue américaine» wirkt mehr gesucht als gefunden, mehr konstruiert als inspiriert – eher Sonatine mit flüchtigem Nachhall denn Meisterfuge mit Ewigkeitswert.
