«Guerre»: Rausch und Sex im Lazarett

Nr. 32 –

Eine von Geilheit, Geldgier und Gemeinheit getriebene Menschheit prägt das Werk von Louis-Ferdinand Céline. Die neu aufgetauchten Manuskriptseiten sind eine Sensation, der erste daraus veröffentlichte Roman aber ein wenig enttäuschend.

Ein neuer Roman von Céline! Und gleich auf Seite eins: eine Kugel im Kopf und eine zweite im Arm. Eigentlich müsste die Hauptfigur, der aus «Reise ans Ende der Nacht» (1932) und «Tod auf Kredit» (1936) wohlvertraute Ferdinand, Antiheld und Alter Ego des Autors Louis-Ferdinand Céline, schon auf der Folgeseite ins Gras beissen: Er liegt in einer «Granaten-Melasse» inmitten eines zerbombten Konvois des Ersten Weltkriegs, rund um ihn die Leichen der Kameraden, rauchende Wagen, zerfetzte Pferde. Doch irgendwie schafft es der Schwerverletzte, weiter durch die flandrische Mondlandschaft zu torkeln, einen ebenfalls verirrten Engländer aufzugabeln und, auf diesen gestützt, den Weg zu den Sanitätern zu finden.

Die Genesungszeit im Spital bildet dann den eigentlichen Gegenstand des Romans. Wir befinden uns im Hinterland, einer Kleinstadt bei Ypern, bevölkert von Figuren, die Grafiken von Otto Dix und Gemälden von Georg Grosz entsprungen zu sein scheinen. Der Stabsarzt ist ein operationswütiger Grünschnabel, die Krankenschwester eine Nymphomanin, der Schlafsaalkumpan ein Zuhälter, seine Dulzinea eine Hexe. Trotz Fieber und Wundbrand denkt die ganze Bagage nur ans Rammeln – sofern nicht schmierige Geschäfte Vorrang haben. Glück und Pech sind so unvorhersehbar wie der Aufprall der stets im Hintergrund herumschwirrenden Sprengkörper – Ferdinand, der als Mittäter am Raub der Regimentskasse entlarvt zu werden fürchtet, erhält stattdessen eine Medaille; sein Kumpan dagegen wird als Deserteur denunziert und endet vor dem Erschiessungskommando.

Dämon der Übertreibung

Romane des 1961 mit 67 Jahren verstorbenen Céline sind keine appetitliche Kost. Eine kranke, geknechtete Menschheit quält sich darin unter dem eitrigen Dreigestirn von Geilheit, Geldgier und Gemeinheit von einer desperaten Lage in die nächste. Dafür bieten diese Werke das literarische Äquivalent von Geisterbahnfahrten im Rauschzustand, verfasst in einer «mündlichen» Kunstsprache, die geklöppelt ist wie delikate Spitzen.

Die Publikation eines neuen, neunten Romans gut sechzig Jahre nach Célines Tod ist also eine Sensation. Leider aber auch eine kleine Enttäuschung. «Guerre» bildet laut dem Herausgeber einen ersten Entwurf, den der Autor sicher überarbeitet hätte. Mit 131 Seiten in grosser Schrift ist der Text um ein Vielfaches kürzer als der kürzeste Céline-Roman, vom bloss als Fragment erhaltenen «Casse-pipe» abgesehen. Im Kleinen kommt der Sprachrhythmus hier oft nicht zum Schwingen – wo Musikalität doch ein Erkennungsmal des Jahrhundertschriftstellers ist –, im Grossen mutet manche Szene lediglich angerissen an. Dabei ist Céline sonst besessen vom Dämon der Übertreibung: Einen Gedanken, eine Beschreibung, eine Situation bläst der bös-begnadete Erzähler so lang mit Fieberluft auf, bis diese kugelrunde Maus einen Berg gebiert. Hier jedoch fehlt ihm die fiese Fabulierlust.

Der kleine Roman ist Teil eines umfangreichen Konvoluts, das im Sommer letzten Jahres unter mysteriösen Umständen wieder aufgetaucht ist: weit über 5000 handbeschriebene Blätter! Diese waren nach der Befreiung von Paris Ende August 1944 aus Célines Wohnung verschwunden. Zu diesem Zeitpunkt war der akut mit Lynchmord bedrohte Schriftsteller bereits mit Frau und Kater ins zusammenbrechende «Tausendjährige Reich» geflüchtet, wo sich in Sigmaringen die Kollaborateur:innen um den greisen Marschall Pétain scharten – der Roman «Von einem Schloss zum andern» verewigt den Aufenthalt mit galligem Humor.

Nah am Publikumsgeschmack

Lange Zeit wurde Céline in Frankreich als ein auf Irrwege geratenes Genie entschuldigt, als ein unverantwortlicher Dichter, der nicht wusste, was er dachte, und nicht glaubte, was er sprach und schrieb. Mit ihrer knapp 1200-seitigen Studie «Céline, la race, le juif. Légende littéraire et vérité historique» haben Annick Duraffour und Pierre-André Taguieff 2017 diesen Mythos endgültig aus der Welt geräumt. Céline propagierte – als einziger französischer Autor von Rang – einen biologischen Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung; er traf sich nicht nur mit hohen NS-Diplomaten, sondern auch mit Verantwortlichen des Sicherheitsdiensts und der Gestapo; er verfasste rabiate Pamphlete, denunzierte mindestens sechs Juden sowie zwei Kommunisten und stand nach dem Krieg mit Holocaustleugnern in Verbindung.

Von all dem ist in den Romanen freilich so gut wie nichts zu spüren. «Reise ans Ende der Nacht» wurde seinerzeit sogar als «linker» Roman rezipiert. Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen Mensch und Autor erklären? Duraffour und Taguieff sind der Meinung, Céline habe sich als Romancier schlicht dem Publikumsgeschmack angepasst. Als Erklärung greift das aber zu kurz.

Dichtung und Wahrheit

Wie auch immer: Jemand raubte im Sommer 1944 einen vollen Kubikmeter Manuskripte; zwei Verdächtige wurden identifiziert, aber nie überführt. Dann meldete sich letztes Jahr ein ehemaliger Theaterkritiker der Zeitung «Libération» bei Célines Erben: Ein:e anonyme:r Leser:in habe ihm vor 2006 den ganzen Wust anvertraut mit der Auflage, ihn nicht vor dem Tod von Célines Frau zu restituieren. Deren Langlebigkeit – sie starb Ende 2019 hundertsiebenjährig – verzögerte die Rückgabe. Der Kritiker will mit Berufung auf den Quellenschutz keinen Namen preisgeben, schreibt zurzeit aber ein Buch, das Licht ins Dunkel bringen könnte.

Mit «Guerre» hat Célines Verlag Gallimard jetzt mit der Veröffentlichung begonnen. Die Höhe der Startauflage – 80 000 Exemplare – widerspiegelt die kommerziellen Hoffnungen. Der Kurzroman ist, trotz seiner Zweitrangigkeit im Rahmen des Gesamtwerks, von hohem Interesse: Er thematisiert eine prägende Episode von Célines Leben, von der bis jetzt kein anderer Text erzählt. Handelt «Tod auf Kredit» von der Kindheit, «Casse-pipe» vom Militärdienst, «Reise ans Ende der Nacht» vom Krieg in Flandern sowie von den nachfolgenden Reisen nach Afrika und Amerika, schildern die Romane der Nachkriegszeit die Flucht aus Paris, die Odyssee durch Deutschland im Bombenhagel, endlich die vierzehnmonatige Gefängnishaft in Dänemark Mitte der 1940er Jahre, so fehlten bis jetzt Célines Verletzung und Genesung bei Ypern Ende 1914 in diesem Flechtwerk aus Dichtung und Wahrheit.

Im Herbst wird Gallimard unter dem Titel «Londres» ein zweites Manuskript veröffentlichen, das mit über 1000 Blättern gut viermal so lang ist wie «Guerre». Darin wird der unmittelbar an die Genesungszeit anschliessende Londonaufenthalt 1915/16 geschildert. Diesen verarbeitete Céline 1942/43 bereits in «Guignol’s Band»; es ist anzunehmen, dass «Londres», wie «Guerre» um 1934 entstanden, einen verworfenen ersten Entwurf bildet. Zeitgleich wird das mittelalterliche Märchen «La Volonté du Roi Krogold» erscheinen, ein auf 470 Blätter gebettetes Kuriosum, das in Anspielungen bereits durch «Tod auf Kredit» und «Guerre» geistert. 2023 wird Gallimard eine bedeutend erweiterte Neufassung von «Casse-pipe» publizieren. Der Rowohlt-Verlag, der Célines Werke auf Deutsch herausgibt, hat noch kein Publikationsdatum bekannt gegeben.

Louis-Ferdinand Céline: Guerre. Éditions Gallimard. Paris 2022. 192 Seiten. 34 Franken