Ökologie: Biopolitik gegen die demokratische Fäulnis

Nr. 24 –

Die Umweltlehre von Jakob von Uexküll steht derzeit hoch im Kurs – und inspiriert neuerdings auch Künstler:innen. Was aber ist mit den reaktionären Ansichten des Autors?

die Installation «Life» von Olafur Eliasson 2021 in der Fondation Beyeler
Inspiriert von Uexkülls Naturbetrachtungen: Die Installation «Life» von Olafur Eliasson 2021 in der Fondation Beyeler. Foto: G. Kefalas, Keystone

Der deutsch-baltische Biologe Jakob von Uexküll (1864–1944) hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Als sein grosses Vermächtnis gilt aber ein kleines, reich illustriertes Büchlein, das 1934 unter dem Titel «Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen» in einer Reihe populärwissenschaftlicher Schriften beim Springer-Verlag erschien. Nun hat der Verlag Matthes & Seitz das Buch neu herausgegeben: Bekannt nicht zuletzt für seine Reihe «Naturkunden», sieht der Verlag in den «Streifzügen» einen originellen Beitrag zum literarischen Genre des «Nature Writing».

Nach wie vor finden Uexkülls Einblicke in das sonderbare Reich tierischer Umwelten ein grosses Publikum. Der britische Wissenschaftsjournalist Ed Yong etwa sieht seinen Bestseller «An Immense World» (2022, auf Deutsch «Die erstaunlichen Sinne der Tiere») explizit als eine Art Aktualisierung der «Streifzüge».

Angesichts der Klimakatastrophe lässt sich leicht erahnen, warum Uexkülls Denken heute wieder vermehrt Interesse weckt: Zum einen kann uns ein besseres Verständnis von Tierumwelten helfen, den schädlichen Einfluss unserer Verhaltensweisen in den Blick zu bekommen. Zum anderen lässt sich mit Uexküll die Zerstörung der Biodiversität auch als geistige Verarmung interpretieren, insofern sie mit einem riesigen Bedeutungsverlust einhergeht: Mit jeder verschwindenden Tierart erlischt ein Teil der Wirklichkeit.

Schliesslich lassen sich die «Streifzüge» auch als Plädoyer begreifen, Tiere in der Spezifik ihrer Umwelten ernst zu nehmen, ohne ihnen menschliche Kategorien überzustülpen. Dieser Versuch, die Natur aus der Perspektive nichtmenschlicher Wesen zu betrachten, findet auch Anklang in gegenwärtigen Strömungen in der Kunst: beispielsweise beim Künstler Olafur Eliasson, der sich für seine Ausstellung «Life», die 2021 in der Fondation Beyeler gezeigt wurde, direkt von Uexkülls «Streifzügen» inspirieren liess.

Bekenntnis zu Hitler

Uexkülls Denken beschränkte sich jedoch nicht bloss auf die Tierwelt. 1920 veröffentlichte er seine «Staatsbiologie» – und pries darin die Monarchie als einzig geeignete Regierungsform. 1933 unterzeichnete er ausserdem mit etwa 900 anderen Intellektuellen das «Bekenntnis der deutschen Hochschullehrer zu Adolf Hitler». Matthias Jung verweist in seinem kurzen Vorwort zur Neuausgabe auf dieses problematische Erbe. Seine Erklärung, dass Uexküll in seinen reaktionären Haltungen ganz «Kind» seiner Zeit gewesen sei, ist aber verkürzt. Der Übergang von Uexkülls Biologie in eine gefährliche Biopolitik ist bereits in seiner erkenntnistheoretischen Grundhaltung angelegt.

Zunächst machen die «Streifzüge» einen ganz unschuldigen Eindruck. In einer einfachen wie auch poetischen Sprache führt Uexküll durch die wunderbare Vielfalt tierischer Umwelten. Mit ihm lässt sich die Welt im Plural denken: Zu jeder Tierart gesellt sich die ihr entsprechende Wirklichkeit. Ob Mensch, Eintagsfliege oder Seestern, jedes Lebewesen müsse man sich wie von einer Seifenblase umgeben vorstellen, in der sich nur jene Merkmale befänden, die es erkenne und auf die es reagiere.

Für die Zecke etwa ist die Welt stumm und dunkel: Sie hat weder Augen noch Ohren, dafür aber einen besonders ausgeprägten Sinn für den Geruch von Buttersäure, der ihr signalisiert, wenn ein Säugetier sich nähert. Ob sie sich im richtigen Moment fallen gelassen hat, zeigt ihr dann ihr Wärmesinn an. Spürt sie die Wärme, dann bohrt sie sich in die Haut des Wirts, saugt sich mit dessen Blut voll, fällt zu Boden, legt ihre Eier und stirbt. Aus dem Zusammenspiel zwischen Merken und Handeln der Zecke ergibt sich deren «Umwelt». Alles andere existiert für sie nicht.

Jakob von Uexküll sitzt im Wald
Jakob von Uexküll

Die grosse Leistung Uexkülls bestand darin, die Umwelt als Konstruktionsleistung zu deuten und den Tieren ebenfalls Subjektstatus zu verleihen. Damit wendete er sich gegen die damals dominierende mechanistische Ansicht in der Zoologie. Uexküll meinte, dass Tiere, und mögen sie noch so simpel ausgestattet sein, ihre Umgebung stets mit Bedeutung versehen und dadurch ihre je eigene Umwelt mitkonstruieren würden.

Alles am richtigen Ort

Bei einem Konzert von Gustav Mahler, schreibt Uexküll in den «Streifzügen», sei ihm die Idee gekommen, eine «Partitur der Natur» zu schreiben. Genauso uneingeschränkt wie der Komponist in der Wahl seiner Instrumente sei auch die Natur bei der Wahl ihrer Umwelten. Allerdings koppelte Uexküll diesen Lobgesang auf die Vielfalt der Tierumwelten immer an ein Ordnungsversprechen: den «Naturplan».

Die Planmässigkeit des Naturgeschehens – nicht etwa Anpassung und Selektionsdruck – sorgte in seinen Augen dafür, dass jedes Tier in seine Umwelt «eingepasst» war: In Uexkülls Biologie ist alles an seinem richtigen Platz, jedes Tier an seine «Wohnwelt» gefesselt, deren «Schranken zu erforschen» wesentlicher Bestandteil seiner Ökologie ist. Nur dank dieser Schranken sei biologische Erkenntnis überhaupt möglich: «Ohne Pläne, das heisst ohne die alles beherrschenden Ordnungsbedingungen der Natur, gäbe es keine geordnete Natur, sondern nur ein Chaos.»

Uexkülls grosser Feind war dabei die materialistische Weltanschauung, die die Vielfalt des Lebendigen auf das blinde Zusammenspiel lebloser Masseteilchen reduzierte. Auch gesellschaftspolitisch drohte der Materialismus chaotische Zustände herbeizuführen. Die Umwälzungen der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg verfolgte Uexküll mit Sorge: Der verlorene Krieg, die Novemberrevolution, die Absetzung des Kaisers und die Ausrufung der Weimarer Republik markierten den Übergang von der Monarchie zur parlamentarischen Demokratie. Im allgemeinen Wahlrecht oder etwa in den Bestrebungen, die Einheitsschule einzuführen, sah er eine Nivellierungstendenz, die auch seine persönlichen aristokratischen Privilegien untergrub.

Wie vielen deutschen Intellektuellen schien ihm die Demokratie das politische Pendant zum erkenntnistheoretischen Programm des Materialismus zu sein: Die Herrschaft der Zahlen, die Reduktion auf messbare Grössen, drohte demnach den lebendigen Organismus des «Volkes» zur blinden, mechanischen «Masse» ohne geistige Führung verkommen zu lassen.

Der Monarchist und die Masse

Dieser reaktionären Anschauung schloss sich Jakob von Uexküll 1920 mit seiner «Staatsbiologie» an: «Das Weltideal der Materialisten, das Chaos, hat sich auf den Staat übertragen», heisst es darin. Dagegen wollte er lieber seine Umweltlehre auf die Gesellschaft übertragen wissen: Die Umwelten eines Bäckers, eines Architekten oder eines höheren Staatsbeamten gehörten separiert, ihre Vermengung dagegen führe zur Entstehung der «Masse» und gefährde das reibungslose Funktionieren des Staatsorganismus.

Aus dem Komponisten ist so ein Monarchist geworden. In der Restaurierung der Monarchie sah Uexküll die einzige Lösung für die demokratischen «Fäulnisprodukte» der zwanziger Jahre. Nur ein Alleinherrscher schien ihm die Planmässigkeit wiederherstellen zu können, die auch auf der Ebene der Naturbetrachtung als Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis fungierte. Liest man Uexküll heute, sollte man diese biopolitischen Schwingungen seines Denkens nicht überhören.

Buchcover von «Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Eine Bedeutungslehre»
Jakob von Uexküll: «Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Eine Bedeutungslehre». Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2023. 213 Seiten. 29 Franken.