Pandemieprävention: Wenn der Mensch die Biosphäre dominiert
Nach dem Schock durch Covid-19 fordern Wissenschaftlerinnen und Politiker grössere Anstrengungen, um die nächste Pandemie zu verhindern. Nun werden teure Strategien geplant, doch deren Nutzen ist fraglich.
Das Problem hat einen Namen: Spillover. So nennen BiologInnen den Vorgang, bei dem Krankheitserreger von Tieren zum Menschen wandern, wie es bei Sars-CoV-2 höchstwahrscheinlich der Fall war. Durch Spillover entstehen Zoonosen, Krankheiten mit tierischem Ursprung. Im Prinzip nichts Neues; so war es schon mit den Masern, der Malaria oder der Pest. Allerdings scheint das Tempo zu steigen, mit dem solche Infektionen um sich greifen. Und laut einer Studie der britischen Zoologin Kate Jones entstanden zwischen 1940 und 2004 insgesamt 335 neue Infektionen, 60 Prozent davon durch Spillover von Tieren. Zu den Erregern zählen das Influenza-A-Virus H5N1 (Vogelgrippe) oder das Nipah-Virus, das sich ab 1998 in Malaysia ausbreitete. Covid-19 ist nur das jüngste, wenn auch bisher übelste Beispiel. Neue übertragbare Viren entstehen mit zunehmender Häufigkeit.
Der Mensch fördert Zoonosen
Wie lässt sich diese Entwicklung erklären? Der französische Biologe Serge Morand hat die verfügbaren Meldungen von Zoonosen zwischen 1990 und 2016 zusammengetragen und mit Daten über die bewaldeten Flächen der Erde kombiniert. «Die Zunahme der Epidemien ist verbunden mit der Abholzung von Wäldern, insbesondere in den Tropen», stellt er in seiner im März veröffentlichten Studie fest.
Dies bestätigt abermals die These, dass die gestiegene Zoonosen-Dynamik auch ökologische Ursachen hat. Neben dem kommerziellen Handel mit Wildtieren wird sie vor allem durch die intensivere Landnutzung angetrieben. Waldrodungen, Strassenbau und Urbanisierung zerstören oder zerstückeln den Lebensraum frei lebender Tiere. Die flüchtenden Tiere drängen in andere ökologische Nischen – und nehmen ihre Parasiten und Krankheitserreger mit. Auch wenn in diesem Prozess Arten aussterben und der Lebensraum ihrer Viren schrumpft: Enge und damit gefährliche Kontakte mit Menschen nehmen zu.
Serge Morand ist einer der bekanntesten WissenschaftlerInnen, die sich mit Zoonosen beschäftigen. Der Evolutionsbiologe und Parasitenexperte lebt in Thailand, wo er an der Kasetsart-Universität in Bangkok lehrt und das verwickelte Zusammenspiel zwischen Biodiversität und menschlichen Krankheiten erforscht. Dieses zu verstehen sei wichtig, um künftig Spillovers zu verhindern, sagt Morand. «Sonst wird es schon bald zur nächsten Pandemie kommen.»
Ein Faktor, der unter Umständen dem Spillover entgegenwirkt, ist die Biodiversität – die Vielfalt unterschiedlicher Arten, Erbanlagen und Ökosysteme. Wenn viele verschiedene Gattungen sich einen Lebensraum teilen, treffen Viren, Bakterien und Parasiten immer auch auf Tiere, die sie nicht oder weniger gut besiedeln können. Biodiversität verdünnt sozusagen die Population der Krankheitserreger und -überträger. Manche Übertragungsketten enden in einer Sackgasse.
Doch die Biodiversität steht unter Druck. Mittlerweile werden 40 Prozent der Landfläche des Planeten landwirtschaftlich genutzt. Nur 9 Prozent bestehen noch aus intakten Wäldern mit geringem menschlichem Einfluss. «Wildtiere, deren natürlicher Lebensraum schrumpft, haben keine andere Wahl, als zunehmend Kulturlandschaften wie städtische Siedlungen und landwirtschaftliche Flächen zu besiedeln», so Raphaël Arlettaz, Professor für Ökologie und Evolution an der Universität Bern. «Wir haben ein wahres Schlaraffenland für Krankheitserreger im Allgemeinen und Zoonosen im Besonderen geschaffen.»
Hinzu kommt: Die Biodiversitätskrise begünstigt besonders anpassungsfähige Gattungen. Sie spezialisieren sich nicht auf bestimmte Nahrung und vermehren sich in kurzen Abständen und mit vielen Nachkommen – so etwa Füchse, Tauben, Wildschweine, einige Hirscharten, Ratten, Kaninchen oder eben Fledermäuse. Diese «Generalisten» mit hohen Reproduktionsraten tragen typischerweise viele Krankheitserreger in sich, die zoonotisch werden können. Unsere Landnutzung vergrössert so ungewollt das Reservoir für gefährliche Viren und Bakterien.
Raphaël Arlettaz weist auf eine weitere Gefahrenquelle hin: die ungeheure Ausdehnung der Viehzucht. Auch dort entstehen Zoonosen, trotz Impfungen, Antibiotika und aufwendiger Hygiene. Mittlerweile stellen Menschen und ihre Nutztiere 95 Prozent der nichtpflanzlichen Biomasse insgesamt, Wildtiere dagegen kommen gerade einmal auf 5 Prozent. «Die Dominanz unserer Art und weniger, genetisch verarmter Nutztiere an der Biomasse der Erde bedeutet eine regelrechte Zeitbombe.»
Pandemien vorhersagen?
Zoonosen haben also auch ökologische Ursachen – aber was fangen wir mit dieser Erkenntnis an? Die Biologen Morand und Arlettaz betonen, man müsse «bei der Quelle des Problems ansetzen». Die staatliche Reaktion auf die Covid-19-Pandemie besteht bisher allerdings in Vorbereitungen für den nächsten Krisenfall.
«Wir erleben eine beginnende Ära der Pandemien», sagte die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen im Februar der «Financial Times». «Die Epidemien der vergangenen Jahre, von HIV über Ebola über Mers bis zu Sars, diese Entwicklung wird anhalten.» Daher wolle die Kommission sicherstellen, dass Europa künftig für den Ernstfall gewappnet sei – mit ausreichend Schutzanzügen, Masken, Medikamenten und Impfstoffen. Dafür soll nach den Vorstellungen der EU-Kommission eine neue Behörde sorgen, das «Europäische Amt für die Bekämpfung von Gesundheitsnotständen» (Hera). Die Stelle werde auf drohende biologische Gefahren hinweisen (inklusive neuer Infektionen), den Bedarf an medizinischen Gegenmassnahmen ermitteln und schliesslich die Pharmaindustrie dazu bringen, entsprechende Kapazitäten bereitzuhalten, zum Beispiel im Rahmen sogenannter Public-private-Partnerships.
Eine Konsequenz der Covid-19-Krise sind verstärkte Anstrengungen, Epidemien schneller zu erkennen und einzugrenzen. Die USA gründen ein «Nationales Zentrum für die Vorhersage und Analyse von Epidemien». Es soll «das Frühwarn- und Alarmsystem modernisieren, um entstehende biologische Gefahren zu verhüten, zu entdecken, abzuwehren und abzumildern», heisst es in einer Regierungserklärung. Wie eine Wetterstation vor Unwettern werde diese Stelle vor kommenden Infektionen warnen. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gründet einen neuen «Hub für pandemische und epidemische Information». Auf der Grundlage von Maschinenlernen sollen die MitarbeiterInnen neue Analysemethoden entwickeln, um gefährliche Ausbrüche schneller zu erkennen, ja sie eventuell sogar im Keim zu ersticken. «Viren bewegen sich schnell, aber Daten sind noch schneller», so der WHO-Generalsekretär Tedros Ghebreyesus.
Früherkennung funktioniert allerdings nur, wenn echte Warnsignale zur Verfügung stehen. Manche Zoonosen kündigen sich an, wenn Wildtiere aus unbekannten Gründen sterben, Tierseuchen in der Viehzucht ausbrechen oder Menschen mit rätselhaften Symptomen erkranken. Aber ExpertInnen gehen davon aus, dass ein Teil der Spillovers überhaupt nicht erkannt wird, insbesondere in tropischen Ländern mit geringen Gesundheitsbudgets. «Wegen des finanziellen Drucks im Gesundheitswesen kümmern sich Laboratorien und Ärzte vor allem um die üblichen behandelbaren Krankheiten», heisst es in einem Review der Europäischen Gesellschaft für klinische Mikrobiologie und Infektionskrankheiten (ESCMID). Um Epidemien vorherzusagen – oder sie wenigstens schneller zu erkennen –, braucht es gute Daten, aber gerade daran mangelt es.
Der Fokus auf die Früherkennung ist nicht neu. Zwischen 2009 und 2019 finanzierten die USA ein Forschungsprogramm mit dem sprechenden Namen «Predict» (Vorhersage). Die beteiligten WissenschaftlerInnen sammelten über 140 000 Proben von Wildtieren in Afrika, Mittelamerika und Südostasien. Die gefundenen Erreger wurden genetisch entschlüsselt und katalogisiert. Das Ziel: gefährliche von weniger gefährlichen Erregern zu unterscheiden.
Mittlerweile werben einige der beteiligten ForscherInnen für ein Nachfolgevorhaben mit dem Titel «Global Virome Project». Dieser «weltweite Atlas zoonotischer Viren» soll 70 Prozent aller Erreger von Wildtieren erfassen. Die geschätzten Kosten liegen zwischen 1,2 und 3,4 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: Die WHO insgesamt verfügte für die Jahre 2018 und 2019 über ein Budget von 4,4 Milliarden US-Dollar. Die Einrichtung der Virendatenbank entspräche also möglicherweise einem Jahresetat der internationalen Organisation. KritikerInnen monieren, diesen enormen Kosten stünde ein nur zweifelhafter Nutzen gegenüber. Bisher lassen sich aus den Gensequenzen kaum Risikofaktoren ableiten, schon deshalb, weil Spillovers selten sind, die Zahl der Säugetierviren dagegen unfassbar gross: Nach neueren Schätzungen existieren etwa 40 000 verschiedene Virenfamilien.
«One Health»
Serge Morand hat Virenfeldforschung im Mekongdelta betrieben. «Wir haben mehr als 3000 Nagetiere untersucht. So haben wir eine halbe Million Viren aus etwa hundert verschiedenen Familien gefunden», erzählt er. «Aber woher wissen wir, welche davon gefährlich sind und welche nicht?» Der Klimawandel und die Biodiversitätskrise, die Tiergemeinschaften und Nahrungsketten verändern, machten es noch schwerer, riskante Viren zu identifizieren. Deshalb fehlt es seiner Meinung nach vor allem an Wissen über die ökologischen und evolutionären Faktoren.
Umweltzerstörung, Tierseuchen und Epidemien unter Menschen sind miteinander verwoben. Deshalb müssen Ökologie, Tier- und Humanmedizin zusammenarbeiten. Dafür steht das Schlagwort «One Health» (siehe WOZ Nr. 18/2021 ). Der Begriff wanderte aus der Wissenschaft in die Politik und machte dort Karriere, vergleichbar mit «Biodiversität» oder «Nachhaltigkeit». Aber obwohl er bei internationalen Gipfeltreffen immer häufiger zu hören ist, spielt der ganzheitliche Ansatz in der Praxis kaum eine Rolle. Morand schlägt vor, Biologinnen und Mediziner sollten mit Naturschutzprojekten zusammenarbeiten. Die Leitfrage: «Welche ökologischen Massnahmen senken am wirksamsten die Krankheitslast?»