Pop: Hitze ohne Höhepunkt

Nr. 26 –

Warum es keine Sommerhits mehr gibt. Und weshalb das nicht nur eine schlechte Nachricht ist: Über drei Sommeralben, die so exzessiv sinnlich wie selbstverständlich politisch sind.

Musikerin Janelle Monáe
Gleitet im Kontinuum einer entgrenzten Erotik: Janelle Monáe. Foto: Johnny Nuñez, Getty

Der Sommerhit, der einst ein paar gesellschaftliche Fugen für die Dauer von dreieinhalb Minuten zu kitten vorgab, ähnelt heute einem alten T-Shirt, das nicht mehr passt. Beide verschwinden aus der Öffentlichkeit – das Shirt findet noch bei Gartenarbeit oder beim Veloflicken Verwendung, der Sommerhit zieht sich in Retroplaylists oder Ü50-Kellerpartys zurück. Auf den Strassen, am Strand, in den Bars aber gibt es keine Übereinkunft mehr, was ein Sommerhit sein soll.

Zwar spukt der Begriff auch in diesem Jahr durch die Medien, weil es zu den Ritualen vor den Ferien gehört, den Sommerhit auszurufen. Aber dieses Ritual hat keine Gemeinde mehr, keinen Markt. Es handelt sich um ein Gespenst aus vordigitalen Zeiten. Weil der erst digitalisierte, dann von Streaming bestimmte Musikmarkt die Hörgewohnheiten derart atomisiert hat. Beyoncé und Bruce Springsteen verlangen in diesem Konzertsommer horrende Ticketpreise, aber Hits im alten Sinn haben auch sie keine.

Lockmittel statt Muskelspiel

Immerhin, es gibt drei Alben, mit denen man einen sehr sinnlichen, musikalisch auf hohem Niveau schmeichelhaften, aussermusikalisch diversen und utopischen Sommer erleben kann: von Janelle Monáe, Anohni & The Johnsons sowie Dudu Tassa & Jonny Greenwood. Sie bieten schillernde und deepe Sommermusik nach der Ära des Sommerhits.

Die Schwarze US-Sängerin und Schauspielerin Janelle Monáe führt mit «The Age of Pleasure» vor, wie anders heute selbst hochwertig produzierte Alben gebaut sind. In den letzten dreissig Jahren hat die digitalisierte Produktion grosse Popsongs wie ein Auto entworfen, mit speziellen Teams für Anfänge, für Strophen, für die Teile kurz vor dem Refrain, für den Refrain. Zusammengehalten wurde dieser Powerpop von Ace of Base über Britney Spears bis Adele von Superproduzenten, die alle auf den Riesenrefrain abzielten. Diese auch Hooks genannten Refrains waren die Entsprechung einer Ästhetik, die einen eindeutigen Höhepunkt verlangt, wie etwa der Cumshot im Porno, die männliche Ejakulation als Klimax. «The Age of Pleasure» zeigt so verführerisch wie virtuos eine Alternative zur herkömmlichen Lustorganisation im Pop.

Schon der erste Song bringt das Programm auf den Punkt: «Float», ein zunächst schleppender Reggae, hört sich wie «Flow» an, das «t» bleibt in Janelle Monáes Aussprache stumm. Alles fliesst also: Bei ihr ist das keine Gratisphrase, sondern sexualpolitisches wie künstlerisches Gesetz für die 32 kurzen Minuten des Albums, das sich der Form des Mixtapes nähert. Zwischen den Songs gibt es nicht nur keine Pausen, auch Harmonien, Beats, Chöre gleiten von einem Track in den andern. Und doch ist das Album unter dieser oft tanzbaren Mixoberfläche komplex gebaut. Es ist stets viel los, aber nicht als Muskelspiel, sondern als Lockmittel: Komm her, hör mich an.

Dass der Flow auch die Sexualität betrifft, erklärt sich von selbst. Dabei steht nicht so sehr die Feier der Queerness im Vordergrund (Monáe selbst bezeichnet sich als «pansexuell»). Das Gleiten im Kontinuum einer entgrenzten Erotik betrifft auch die Auflösung des Objekts zum Subjekt, zum Ich: Erst besingt sie in «Phenomenal» die «mystic sexy preacher» als Göttin und sich als Gläubige, bald darauf spricht sie aber an deren Stelle. Es gebe tausend Versionen von ihr selbst, aber alle seien «fine as fuck». Das ist deshalb mehr als handelsübliches Empowerment, weil Monáe den Sex tatsächlich enthierarchisiert, im Handumdrehen von einer Perspektive der Königin auf die eigene und wieder zurückwechselt. Unwiderstehlich wirkt «The Age of Pleasure» auch, weil die halbe Stunde die viel beschworene Fluidität so elegant in Musik übersetzt, die zwischen Roots-Reggae-Bläsern, alten Afrobeatorgeln und Amapianobeats wechselt.

Auch die Lieder der trans Person Anohni laufen schon lange nicht auf explodierende Refrains zu. Die britische Sänger:in aus New York City widmet sich auf dem im Juli erscheinenden Album «My Back Was a Bridge for You to Cross» den emanzipatorischen Kämpfen der Vergangenheit, auf dem Cover ehrt sie den 1992 verstorbenen Schwulenaktivisten und Andy-Warhol-Performer Marsha P. Johnson.

Doch Anohni singt meistens über Katastrophen, sie ist eine Kassandra an den Rändern des Pop, die in der Kunst den Schmerz besingt und ihn so zu überwinden scheint. Die Klimakatastrophe, auf ihrem letzten Album «Hopelessness» vor sieben Jahren direkt angesprochen, fehlt auch auf dem neuen Album nicht. Aber der Ton ist kämpferischer, und wenn Kampf nicht Nachlassen bedeutet, ist die musikalische Entsprechung die harmonische Wiederholung, die melodische Variation des Themas auf ähnlichem Grund.

Für solche Übungen des Dranbleibens eignet sich die Soul Music gut, insbesondere aus der politisch erwachten Zeit der frühen siebziger Jahre, als viele Schwarze Musiker:innen wie Sly Stone, Marvin Gaye und sogar Stevie Wonder bemerkten, dass das Versprechen auf Integration falsch gewesen war. Und so erinnert Anohni an die Ära von Platten wie «What’s Going On» von Marvin Gaye. «It Must Change», die erste Single des Albums, legt davon Zeugnis ab, wenn auf den Streichern viel Hall liegt und sie wie von draussen hereingeweht klingen. Die auf dem Album dominante halbakustische Jazzgitarre des Produzenten Jimmy Hogarth baut dagegen einen intimeren Klangraum.

Die Grundrisse der Songs seien oft in einem Schwung aufgenommen worden, heisst es im Begleitschreiben. Und so bezieht die Musik ihre Spannung aus den ringenden, mitunter leicht unperfekten Gesangs- und Gitarrenspuren und den im Gegensatz dazu durcharrangierten Streichern oder einer Klarinette. Wer in jede Zeile so viel atmende Intensität legen kann wie Anohni, braucht keinen Refrain als Druckventil.

Die zweite Single, «Sliver of Ice», macht den Punkt des Post-Höhepunkts noch einmal besonders schillernd, weil der Song vorerst einem herkömmlichen Schema zu folgen scheint. Aber die im schön verzitterten Choruseffekt getränkten Gitarrenakkorde bleiben dieselben. Solange Anohni in einer Art Bariton bleibt, könnte man meinen, Produzent Rick Rubin habe Elvis Presley auf das Minimum reduziert (wie es Rubin beim alten Johnny Cash tat). Doch dann variiert sie die Melodie in höheren Registern, mit mehr Druck, während die Musik ruhig weitermacht. Es geht um eine Nahtoderfahrung und wie sich die Liebe dabei anfühlt, so entgrenzend und doch vergänglich wie ein Eiswürfel auf der Zunge. Betörender hat Nonbinarität im Pop selten geklungen, darauf müsste sich auch eine Mehrheitsgesellschaft in den heissen Monaten einigen können.

In jeder Hinsicht utopisch

Wer die im Wortsinn wunderbarste, weil unwahrscheinlichste Musik der Saison hören möchte, spiele «Jarak Qaribak», ein Album mit Liebesliedern aus den Wüsten und den Städten des arabischen Raums, produziert von einem Israeli und einem englischen Popstar. Dudu Tassa und Jonny Greenwood, Gitarrist von Radiohead und ausgezeichneter Filmmusiker, haben acht Sänger:innen in unterschiedlichen Studios darum gebeten, ältere und alte Hits zwischen Sfax und Bagdad einzusingen.

Das Politische daran ist, dass diese Zusammenarbeit zustande kommt. Und das Wunderbare macht vor der Musik keinen Halt, weil jede Falle von kulturellem Cross-over vermieden wird. Die alten Lieder sind da, auch die Oud, die arabische Kurzhalslaute, die akzentuierten Streicher und die Nayflöte bleiben im Vordergrund. Und doch behalten der Israeli und der Brite ihre Popaffinität: der rhythmische, halbakustische Bass von Tassa, die dürren Linien der Telecastergitarre und die zarten Patterns aus dem alten Drumcomputer von Greenwood fügen diesen Melodien viel hinzu, ohne ihnen etwas wegzunehmen. Manchmal klingt es, als würden Echos von jamaikanischem Dub und Luftschlaufen von deutschem Krautrock an den Ufern des östlichen Mittelmeers ankommen. Ein in jeder Hinsicht utopisches Album.

Die europäische Idee des Refrains hat im Sommerhit eine Weile weitergelebt. Über die Rechte an diesen Melodien streiten sich Popstars heute vor Gericht. Als Ed Sheeran vor ein paar Monaten ein Album herausbrachte, war der Urheberrechtsprozess um seinen Song «Thinking Out Loud» in der gleichen Woche das wichtigere Thema. Das macht den Blick frei für Musik, die Erotik auch ohne Erlösung nach spätestens 45 Sekunden denken kann.

Janelle Monáe: «The Age of Pleasure». Bad Boy / Atlantic. 2023.

Anohni & The Johnsons: «My Back Was a Bridge for You to Cross». Secretly Canadian/Rough Trade. 2023.

Dudu Tassa & Jonny Greenwood: «Jarak Qaribak». World Circuit. 2023.