Service public: «Und das alles in einem derart reichen Kanton»

Nr. 6 –

In der Waadt weitet sich der Protest von Service-public-Angestellten gegen die Lohnpolitik der Regierung zu einer veritablen Bewegung aus – Streiks inklusive.

Cora Antonioli, Vanessa Monney und Raphaël Ramuz in den Büros ihrer Gewerkschaft SSP/VPOD in Lausanne
Sie kämpfen für einen echten Teuerungsausgleich: Cora Antonioli, Vanessa Monney und Raphaël Ramuz in den Büros ihrer Gewerkschaft SSP/VPOD in Lausanne.

Ein paar Schritte abseits der Avenue Louis-Rouchonnet unweit des Lausanner Hauptbahnhofs. In den Büros des Syndicat des Services publics (SSP/VPOD) der Waadt herrscht an diesem Dienstag Hochbetrieb. Vanessa Monney, Gewerkschaftssekretärin im Gesundheitsbereich, und Raphaël Ramuz, der für die Bildung zuständig ist, eilen mit Unterlagen von einem Zimmer ins andere. Dazwischen klingelt immer wieder das Telefon. Zwei Tage noch bis zur nächsten Grossdemonstration der Service-public-Angestellten am Erscheinungstag dieser WOZ.

Nachdem schon am 23. Januar etwa 4000 Angestellte dem Aufruf des SSP und weiterer Gewerkschaften wie der Union syndicale Solidaires (Sud) gefolgt waren, hat sich der Protest zu einer veritablen Bewegung ausgeweitet. Sogar als «poulets» verkleidete Polizist:innen beteiligen sich. Am 31. Januar gingen bereits gegen 10 000 Menschen auf die Strassen von Lausanne, um gegen den «Teuerungsausgleich» von 1,4 Prozent zu protestieren, den ihnen die waadtländische Regierung vor die Füsse geworfen hatte. Mehr als 2000 davon legten auch die Arbeit nieder – neben weit über 1000 Lehrer:innen etwa 250 Spitalangestellte sowie Beschäftigte in halbstaatlichen sozialen Einrichtungen und im Asylwesen. Es ist eine Mobilisation, von der Gewerkschafter:innen in der Deutschschweiz nur träumen können: Im Kanton Bern etwa, wo der Teuerungsausgleich für Service-public-Angestellte noch tiefer ist, demonstrierten ein paar Hundert.

Vielleicht ist es ja auch kein Zufall, dass der Begriff «Service public» auch in der Deutschschweiz verwendet wird. Dominique Dirlewanger, Geschichtslehrer an einem waadtländischen Gymnasium und selber gewerkschaftlich aktiv, sagt: «Schon seit den ersten grösseren Sparplänen Mitte der neunziger Jahre gibt es in der Waadt eine grössere Bewegung der Staatsbediensteten.»

Einen ähnlichen Protest mitsamt Streiks gab es vor gut acht Jahren im Kanton Genf. Dort verbündeten sich Service-public-Angestellte aus unterschiedlichsten Sektoren mit jenen der Genfer Verkehrsbetriebe, die sich gegen ein rigoroses Sparprogramm wehrten. Dass Streiks gerade im Service-public-Bereich zugenommen haben, hat aber auch mit dem Verschwinden des Beamt:innenstatus Anfang der nuller Jahre zu tun, worauf in vielen Kantonen Errungenschaften wie Lohnautomatismen oder der Kündigungsschutz verloren gingen. «Gerade im Kanton Waadt», so Dirlewanger, «hat der Streik seither an Bedeutung gewonnen.»

Zuerst in den Schulen

Die aktuellen Proteste nahmen ihren Ausgangspunkt an den Schulen, wo bereits im Dezember gestreikt wurde. Inzwischen sind laut Angaben des Bildungsdepartements über vierzig Bildungseinrichtungen betroffen. Besonders stark ist die Bewegung an höheren Schulen: «In unserem Gymnasium haben sich sechzig Prozent aller Lehrer:innen an den Streiks beteiligt», sagt Cora Antonioli, Deutschlehrerin und Vizepräsident des VPOD Schweiz, die sich inzwischen zu Monney und Ramuz an den Tisch gesellt hat.

Im Bildungsbereich gebe es schon seit längerem Probleme: «Zu wenig qualifiziertes Personal in der Volksschule, zu wenig Mittel für die Integration von Schüler:innen mit Handicaps, zu grosse Klassen in den Gymnasien», sagt Antonioli. «Das dauert jetzt schon zwölf Jahre. Wir haben ganz allgemein zu wenig Zeit für die Schüler:innen – und zu viel Bürokratie.» Dass sich vor allem Lehrkräfte an den Streiks beteiligen, habe aber auch praktische Gründe: In Schulen sei es weniger schwierig zu streiken als etwa in Spitälern. «Wir Lehrer:innen können es uns dadurch eher leisten, mit anderen Sektoren solidarisch zu sein. Indem wir damit einen Anfang machen, können wir Kolleg:innen in anderen Bereichen zu mehr Widerstand motivieren. Dabei profitieren wir von unserem Netzwerk aus früheren Streiks gegen Sparprogramme und für bessere Renten», so Antonioli.

Im durch den Fachpersonalmangel sowieso schon arg gebeutelten Gesundheitswesen ist die Situation besonders prekär. «Alle rufen: Es braucht mehr Pflegefachleute», sagt Gewerkschaftssekretärin Vanessa Monney. «Dafür kämpfen wir schon seit fünf Jahren und haben etliche, noch immer pendente Motionen eingereicht. Nichts geschieht.» Besonders fatal sei das für das Personal in teilprivatisierten Betrieben, wo die Arbeitsbedingungen und Löhne noch schlechter seien. Damit verbunden sei ein weiterer Unterschied, betont Gewerkschafter Raphaël Ramuz. «Im öffentlichen Sektor ist das Streikrecht besser geschützt als im halböffentlichen, der durch Gesamtarbeitsverträge geregelt ist. Für Angestellte, die nicht direkt vom Kanton angestellt sind, ist das Streiken darum viel riskanter.» Umso grösseren Respekt verdienten die Streikenden etwa in den Notunterkünften Malley-Prairie.

1,4 Prozent als «Teuerungsausgleich»: Das ist schon objektiv betrachtet eine Unverschämtheit. Ausgehend vom realen Anstieg des Landesindexes der Konsument:innenpreise zwischen Oktober 2021 und Oktober 2022, müssten es 3 Prozent sein. Doch selbst angesichts dieser Tatsache, so Ramuz, sei es für ein Gericht schwierig zu beweisen, dass eine solche «Nichtanpassung» nicht legal sei. Die Regierung selbst glaubt offenbar, sich diese Kleinzügigkeit leisten zu können. «Und das alles», so Ramuz, «in einem derart reichen Kanton, der seit siebzehn Jahren Hunderte Millionen Franken Überschüsse macht! Diese Politik basiert auf einem unehrlichen Budget.»

Maillards Botschaft

Nun, da sich der Konflikt zwischen dem Kanton und den Menschen, die mit ihrer Arbeit die Grundversorgung sichern, zuspitzt, meldet sich Pierre-Yves Maillard (SP), der heute an der Spitze des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds steht: Als ehemaliger Waadtländer Regierungsrat sei er zwar ­«einer gewissen Zurückhaltung gegenüber der Regierung verpflichtet», schreibt er in seiner Botschaft an den SSP. «Trotzdem möchte ich in dieser Situation an einen Grundsatz erinnern, der für jeden Arbeitgeber gelten sollte: Löhne und Arbeitsbedingungen werden mit den repräsentativen Organisationen des Personals ausgehandelt.» Im Herbst hätten die Gewerkschaften die Löhne von fast zwei Millionen Beschäftigten in der Privatwirtschaft ausgehandelt, inklusive einer Anpassung an die Inflation. «Wenn die Chefs dieser Branchen das Prinzip akzeptieren, sollte das auch die neue Waadtländer Regierung tun.»

Da mutet es fast etwas zynisch an, dass Maillard 2016 als damaliger Sozialdirektor eine Unternehmenssteuerreform in der Waadt mitgetragen hat. Sein Hintergedanke damals: noch mehr Konzerne anzulocken oder zumindest ihren Wegzug zu verhindern, indem sie weniger Gewinnsteuern zahlen müssen – und dafür mehr Geld für den öffentlichen Bereich zur Verfügung zu haben.

Und heute? Fehlt es an allen Ecken und Enden an diesem Geld, um die Arbeit für den Service public anständig zu honorieren. Um kein Jota rückt die Regierung von ihrem «Teuerungsausgleich» ab, der effektiv einen tieferen Reallohn bedeutet. «2008, bei den Protesten gegen das neue Lohnsystem, gab es schon nach einigen Tagen Verhandlungen während des Streiks», erinnert sich Cora Antonioli. Die aktuelle Regierung dagegen reagierte erst am 30. Januar, also einen Tag vor dem zweiten grossen Protesttag. Ein erstes Treffen stellt sie für den 23. Februar in Aussicht. Doch auch da will sie nicht über den Teuerungsausgleich verhandeln, sondern Punkte wie die Bekämpfung von sexuellen Belästigungen, Lohngleichheit, einen besseren Whistleblowerschutz oder die Prävention psychosozialer Risiken erörtern – Forderungen im Gesamtumfang von zusätzlichen fünfzig Millionen Franken, die die Gewerkschaften paritätisch mit nichtstaatlichen Arbeitgebern bereits seit längerem stellen.

Es würde nicht erstaunen, wenn sich diese Woche noch mehr Menschen auf der Place du Château versammelten. «Nach eh schon komplizierten Jahren haben wir das Gefühl, dass uns mit der Gehaltssenkung ins Gesicht gespuckt wird», sagt an diesem Dienstag in Lausanne eine Passantin, die im Bildungsbereich arbeitet. «Wenn wir das akzeptieren, wird es immer schlimmer.»