Arbeitskämpfe in Grossbritannien: Schneebälle gegen den Giganten

Nr. 24 –

Die britische Streikwelle dauert seit einem Jahr an, und mittlerweile hat sie auch den Versandhändler Amazon erreicht. Auseinandersetzungen wie diese werden entscheidend sein für die Zukunft der britischen Gewerkschaftsbewegung.

 Amazon-Angestellte streiken in Coventry vor dem Amazon-Versand-Gebäude
Lassen sich nicht mehr einschüchtern: Am 25. Januar streikten in Coventry erstmals Amazon-Angestellte in Grossbritannien. Foto: Jacob King, Getty

Der Streikposten erstreckt sich über mehrere Hundert Meter, von der Einbiegung in den Industriepark bis hinunter zum grossen Amazon-Schild am linken Strassenrand. In kleinen Grüppchen stehen die Angestellten, die Hände in den Hosentaschen. Manche blicken unsicher um sich, als ob sie nicht so richtig wüssten, was sie jetzt eigentlich tun sollen.

Unter den etwa 300 Leuten, die an diesem Morgen im Mai die Zufahrt zum Logistikzentrum blockieren, sind viele Streikdebütant:innen. So ist es jedes Mal, wenn hier protestiert wird: Jeder Streiktag zieht mehr Beteiligte an, wie ein Schneeball, der den Hügel hinunterrollt und immer dicker wird. Seit der ersten Arbeitsniederlegung vor einem halben Jahr ist die Kugel hier in Coventry richtig in Fahrt gekommen.

Einerseits ist ein Streik in diesem Sommer, nach zwölf Monaten intensiver Arbeitskämpfe, nun wirklich keine Neuigkeit mehr. Die Brit:innen haben im vergangenen Jahr fast alles gesehen: riesige Streiks, die Teile der landesweiten Infrastruktur lahmlegten, kleine Streiks mit ein paar Dutzend Beteiligten. Müllmänner in orangen Overalls, Anwältinnen in schnittigen Anzügen, Zivilbeamte in Westminster, Flughafenpersonal auf den Orkney Islands, Tausende Grenzbeamte, Zehntausende Ärzte, Hunderttausende Lehrerinnen und Pfleger. Streiks überall. So häufig waren die Ausstände, dass die britischen Zeitungen in manchen Wochen Tabellen anlegten, um zu veranschaulichen, welcher Dienst an welchem Tag ruhen wird.

Hohe Belastung, tiefer Lohn

Wenn man sich jedoch anschaut, was der Aufstand der Lohnabhängigen bislang bewirkt hat, so ist die Bilanz durchzogen. Manche Gewerkschaften haben signifikante Lohnerhöhungen durchgesetzt, etwa die CWU, die für die Pöstler:innen zehn Prozent mehr Gehalt ausgehandelt hat. In anderen Sektoren hingegen waren die Konzessionen an die Angestellten eher bescheiden. Die Regierung hat etwa den Gesundheitsangestellten eine einmalige Geldsumme plus eine Gehaltserhöhung von fünf Prozent offeriert, also weit weniger als das, was nur schon zum Ausgleich der Inflation nötig wäre. Dennoch haben mehrere Gewerkschaften das Angebot angenommen.

Ernüchternd sind auch die neusten Zahlen zur Gewerkschaftsdichte in Grossbritannien: Ende 2022 zählte die organisierte Arbeiter:innenschaft 6,25 Millionen Mitglieder – 200 000 weniger als im Jahr zuvor. Trotz aller Streiks, trotz der Begeisterung, die das kämpferische Jahr bei vielen ausgelöst hat, zeichnet sich noch kein greifbarer Aufschwung ab, zumindest kein nummerischer. Besonders im Privatsektor ist der Organisationsgrad weiterhin gering: Nur 2,4 Millionen Mitglieder zählen die Gewerkschaften hier, das sind gerade mal zwölf Prozent aller Angestellten, so wenige wie noch nie zuvor. Zum Vergleich: Im öffentlichen Sektor sind fast die Hälfte der Angestellten gewerkschaftlich organisiert. Für den Wiederaufbau der Arbeiter:innenbewegung ist es also dringend nötig, dass in privaten Unternehmen mehr Mitglieder rekrutiert werden. In Unternehmen wie Amazon.

«Was wollen wir?», fragt eine junge Frau ins Megafon. «Fünfzehn Pfund!», ruft die Menge zurück. «Wann?» – «Jetzt!» Die Streikenden haben sich in der Mitte der Strasse versammelt und schreiten in einem gemächlichen Protestzug hinunter in Richtung Amazon-Lagerhalle. Das Versandzentrum am westlichen Rand von Coventry, einer einstigen Industriestadt bei Birmingham, ist eines der grössten im Land. Von hier werden andere Amazon-Depots mit Produkten versorgt, entsprechend gross ist seine logistische Bedeutung. Aber in anderer Hinsicht ist es wie jedes beliebige Lager des US-Giganten: Die Angestellten schuften in Zehnstundenschichten, hetzen durch die Gänge, nehmen allen möglichen Kram aus den Gestellen, packen ein, packen aus, im Nacken stets der Algorithmus, der jedes kleinste Detail ihrer Arbeit steuert.

Spricht man mit den Streikenden in Coventry, dann berichten sie vom Stress, unter dem sie leiden, von enormem Zeitdruck und verpassten Toilettenpausen, von Verletzungen am Arbeitsplatz – und von einer Bezahlung, die in keinem Verhältnis zu dieser Belastung steht. Der Stundenlohn liegt derzeit bei etwa 11 Pfund, also etwa 12.50 Franken. Als letztes Jahr plötzlich alles teurer wurde, besonders Strom und Gas, aber auch Lebensmittel, kamen viele Amazon-Angestellte kaum mehr über die Runden. Das Unternehmen offerierte Lohnerhöhungen von 35 bis 50 Pence pro Stunde – jedes Depot legt seine Gehälter selber fest. Die Angestellten empfanden diese Knauserigkeit als Schlag ins Gesicht – immerhin ist Amazon einer der profitabelsten Konzerne der Welt.

Der Impuls kam von innen

Der Widerstand begann im August, im Amazon-Lager in Tilbury, an der Themsemündung im Südosten Englands. Nachdem die Angestellten von der Verwaltung über die knappe Gehaltserhöhung informiert worden waren, weigerten sich Dutzende von ihnen kurzerhand, die Kantine zu verlassen. Die Nachricht verbreitete sich im Nu über Social Media, bald schlossen sich der spontanen Aktion auch Angestellte in anderen Logistikzentren an. Manche zogen Sitzstreiks auf, andere verliessen ihre Arbeitsplätze und protestierten vor den Depots, auch in Coventry.

Als Amanda Gearing davon hörte, fuhr sie schnurstracks hierher. Die Organizerin von der Gewerkschaft GMB, 51 Jahre alt, hatte schon seit einem Jahrzehnt versucht, die Amazon-Arbeiter:innen gewerkschaftlich zu organisieren. Aber es ging nur zäh voran, in Coventry stagnierte die Zahl der GMB-Mitglieder bei rund sechzig – nicht gerade viel bei einer Belegschaft von geschätzt 1400 Angestellten. Weil sich jedoch Gearing und ihre Kolleg:innen immer wieder vor den Eingang des Lagers gestellt hatten, um zu rekrutieren, kannten die Arbeiter:innen zumindest ihr Gesicht. «Wir fragten die Mitarbeiter, was sie tun wollten, und sie sagten: ‹Wir wollen für höhere Löhne protestieren, aber legal›», erzählt Gearing. Denn ungeplante Arbeitsniederlegungen, sogenannte «wildcat strikes», sind in Grossbritannien nicht erlaubt. «Also erklärten wir ihnen, wie ein Streik funktioniert.»

Innerhalb einer Woche hatte sich die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in Coventry verdoppelt. Wichtig war laut Gearing, dass der Impuls, den Amazon-Bossen die Stirn zu bieten, nicht von aussen kam, sondern von den Angestellten selbst. Dennoch war es gar nicht so einfach, die Streikabstimmung zu gewinnen: Nicht nur fehlte den meisten Angestellten jegliche gewerkschaftliche Erfahrung, die grosse Mehrheit hat zudem eine Migrationsgeschichte. Laut Gearing werden im Lagerhaus mindestens acht Sprachen gesprochen – dass nur die wenigsten Englisch als Muttersprache haben, erschwerte die Kommunikation. «Auch stammen viele der Angestellten aus Ländern ohne funktionierenden Postdienst, sie hatten keine Ahnung, wie sie ihren Stimmzettel verschicken müssen», sagt sie. Nach zwei Anläufen habe es dennoch geklappt, das Votum für einen Arbeitsausstand war überwältigend. Am 25. Januar um Punkt Mitternacht marschierten siebzig Angestellte aus dem Coventry-Zentrum und stellten sich an die Streikposten. Es war der erste Amazon-Streik in Grossbritannien.

Seither haben die Angestellten an fünfzehn weiteren Tagen die Arbeit niedergelegt. Und die Gewerkschaft ist stetig gewachsen, sie hat heute rund 750 Mitglieder. Das ist umso bemerkenswerter, als das Unternehmen nichts unversucht lässt, um die Angestellten einzuschüchtern. Amazon habe vor dem Lager in Coventry Überwachungskameras installiert, erzählt Gearing, und die Zahl der Sicherheitsleute habe sich verdoppelt. Gespräche über die Gewerkschaft seien von der Betriebsführung als «Hassrede» klassifiziert worden. Bei den ersten Arbeitsausständen seien die Manager am Streikposten auf- und abgelaufen und hätten die Streikenden gefilmt.

Inzwischen haben sich Gearing und ihre Kolleg:innen das nächste Ziel gesetzt: die Anerkennung der Gewerkschaft durch Amazon. Das wäre ein folgenreicher Schritt, er gäbe den Angestellten weit mehr Einflussmöglichkeiten. «All die Verstösse gegen die Vorschriften zum Gesundheitsschutz könnten dann formell angefochten werden», sagt Gearing. «Derzeit kann man sich lediglich beschweren, aber es wird nichts passieren.» Auch könnten sich die Vertreter:innen der Belegschaft regelmässig mit dem Management zusammensetzen und Forderungen stellen, etwa bezüglich der Löhne.

Die neue Arbeiter:innenklasse

Wenn in einem Betrieb mindestens die Hälfte der Belegschaft einer Gewerkschaft angehört, folgt die Anerkennung automatisch. Diese Schwelle war laut der GMB schon vor Wochen erreicht, entsprechend hatte sie ein Gesuch bei der Schlichtungsbehörde Acas eingereicht. Aber während die Behörde die Bedingungen für die Anerkennung prüfte, blieb Amazon nicht untätig: In den letzten Wochen sind in Coventry Hunderte neue Mitarbeiter:innen eingestellt worden. Laut Gearing ist es ein Versuch, die Zahl der Angestellten künstlich in die Höhe zu treiben, um die Pläne der GMB zu durchkreuzen – was das Unternehmen bestreitet. Auf jeden Fall wurde die Gewerkschaft so zu einem Rückzieher gezwungen. Letzte Woche nahm sie das Gesuch um Anerkennung vorerst zurück.

Amanda Gearing ist seit sechzehn Jahren Organizerin bei der GMB, aber der Arbeitskampf bei Amazon sei ihr «bislang grösstes Projekt». Auch für die breitere Gewerkschaftsbewegung ist es ein Disput mit Signalwirkung. Nicht nur, weil es um einen der mächtigsten globalen Konzerne geht, der in den vergangenen Jahren vielerorts enorm an Einfluss gewonnen hat. Sondern auch, weil die Arbeiter:innenklasse – in Grossbritannien genauso wie in anderen westlichen Ländern – immer mehr Leute wie jene umfassen wird, die heute vor dem Zentrum in Coventry stehen: jung, migrantisch geprägt, bislang ohne viel Erfahrung in der Welt der Gewerkschaften. Diese Menschen zu organisieren, wird entscheidend sein, um die Arbeiter:innenbewegung dauerhaft zu stärken und gesellschaftlich zu verankern.

Um 8.30 Uhr ist der Protest vorbei, die GMB-Flaggen werden eingerollt. Wieder herrscht bei einigen Neulingen Verwirrung. «Gehen wir jetzt zur Arbeit?», fragt einer. «Nein, auf keinen Fall!», antwortet seine Kollegin, die schon bei einigen Ausständen mitgemacht hat. «Heute sind wir im Streik, jetzt gehen wir nach Hause.»