HDP in der Krise: Kritik von der enttäuschten Basis
Die prokurdische Partei HDP ist die grosse Verliererin der politischen Entwicklungen in der Türkei. Nach dem ernüchternden Resultat bei den Wahlen im Mai und dem Rückzug ihres früheren Kovorsitzenden Selahattin Demirtaş muss die Partei sich neu aufstellen.
Recep Tayyip Erdoğan als Präsidenten abwählen und mit einer starken linken Opposition ins türkische Parlament einziehen – das waren die zwei Hauptziele der prokurdischen HDP bei der vergangenen Parlaments- und Präsidentschaftswahl am 14. Mai. Doch beide Ziele wurden verfehlt. Die HDP, die als Teil eines Bündnisses aus sozialistischen und mehrheitlich kurdischen Parteien angetreten war, holte lediglich neun Prozent der Stimmen. Ein Ergebnis, das weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Ein wesentlicher Grund für das bescheidene Ergebnis ist die drastische staatliche Repression, etwa die Inhaftierung und die Absetzung zahlreicher HDP-Abgeordneter. Zudem gab es kaum Möglichkeiten für öffentliche Kundgebungen oder Auftritte in den Medien. Auch zivilgesellschaftliches Engagement wurde untersagt. Nach dem Erdbeben im Grenzgebiet zu Syrien wurde die Unterstützung der Betroffenen durch HDP-Ortsgruppen verboten.
Nun geht die HDP in eine Phase der Revision. Kritik kommt nicht nur von der Parteibasis, sondern auch aus einer Gefängniszelle in der Grenzstadt Edirne. Von dort kündigte Selahattin Demirtaş, der seit 2016 inhaftierte ehemalige Kovorsitzende der Partei, seinen Rückzug aus der Politik an. «Eine Entscheidung, die grosse Auswirkungen hat und innerhalb der HDP eine Debatte ausgelöst hat», sagt der Journalist İrfan Aktan. Er führte im Juni das schriftliche Interview mit Demirtaş, in dem dieser seinen Weggang aus der Politik verkündete. Bis dahin bezog der prominenteste kurdische Politiker auch hinter Gittern Stellung zu aktuellen Debatten und Entscheidungen.
«Keiner der inhaftierten HDP-Politiker ist so einflussreich wie Demirtaş», erklärt Aktan. Mit seinem Aktivismus habe er auch bei der Opposition durchaus Sympathien gewinnen können. Dies habe aber auch zu einer immer stärker werdenden Unterdrückung durch die Regierung geführt. Wohl auch in der Hoffnung, nach einem Machtwechsel das Gefängnis verlassen zu können, gab Demirtaş vor dem Urnengang noch mehr Interviews als sonst. Zudem rief er zur Wahl von Erdoğans Kontrahenten, dem CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu, auf. Der hatte versprochen, sich bei einem Sieg für Demirtaş’ Entlassung einzusetzen.
Neue Leitung gesucht
Nun hat aber Erdoğan nach seinem erneuten Triumph noch am Wahlabend angekündigt, den «Terroristen» niemals freizulassen. Dabei sei, bemängelte Demirtaş, seine Freilassung bereits gerichtlich angeordnet worden. Aber dieses Urteil werde wohl erst umgesetzt werden, wenn der Rechtsstaat wieder funktioniere. Dann schob Demirtaş hinterher: «Unser Kampf wird darüber bestimmen, wann es so weit ist.» Für den Journalisten Aktan ist dies eine Aufforderung an die Partei, sich aktiver als bisher für die Freilassung inhaftierter Genoss:innen einzusetzen. «Demirtaş und die HDP sind aufeinander angewiesen», sagt er. Deswegen sei Demirtaş auch nicht aus der Partei ausgetreten. Werde seine Kritik ernst genommen, kehre er wieder in die aktive Politik zurück, ist sich Aktan sicher.
Unter anderem beschuldigt Demirtaş die HDP, nach aussen zwar eine demokratische Politik zu fordern, diese jedoch im Inneren nicht zu praktizieren. «Das ist nicht nur ein Manko, sondern auch eine kriminelle Praxis», sagt er. Deswegen müssten parteiintern neue Mechanismen geschaffen werden, um die demokratische Kontrolle der Basis über den Parteiapparat zu gewährleisten. Dies sei die dringlichste Aufgabe einer neuen Parteiführung. Die Bevölkerung solle die Möglichkeit haben, die Partei zu kontrollieren und zu befragen, wann immer sie wolle. «Wir müssen die Mittel dafür schaffen», fordert Demirtaş. Im Gespräch mit jungen kurdischen Wähler:innen, die aus Angst vor staatlichen Repressalien anonym bleiben wollen, wird schnell deutlich, dass sein Rückzug Misstrauen gegenüber der Partei auslöst. Denn der Inhaftierte geniesst grosses Vertrauen.
Die aktuellen Kovorsitzenden, Pervin Buldan und Mithat Sancar, haben bereits angekündigt, am nächsten Parteikongress im Herbst nicht erneut für die Leitung zu kandidieren. Sie seien in der Pflicht, Rechenschaft abzulegen und Selbstkritik zu üben, befand Buldan. Darin ist die HDP der führenden Oppositionspartei, der sozialdemokratischen CHP, einen Schritt voraus. Nach der Niederlage von Erdoğans Herausforderer Kılıçdaroğlu in beiden Runden der Präsidentschaftswahl wurden Forderungen nach seinem Rücktritt laut. Bisher lehnt er dies jedoch ab, zum Unmut vieler CHP-Mitglieder.
Schwierige Einigung
Die Debatte um die Zukunft der HDP hat zwar nach den Wahlen und Demirtaş’ Kritik an Fahrt gewonnen, neu ist sie jedoch nicht. Denn in der HDP versammeln sich diverse Gruppen unter dem Dach einer progressiven Politik, doch in ihrer konkreten Ausrichtung sind diese Gruppen höchst unterschiedlich. Die Frage, die sich daher aktuell stellt, ist, ob die Grundlage dieses Zusammenschlusses noch gross genug ist, um die Partei zusammenzuhalten. Die Forderung nach mehr parteiinterner Demokratie ist nicht falsch, rückt aber die inhaltlich notwendigen Auseinandersetzungen in den Hintergrund.
Schon seit ihrer Gründung im Jahr 2012 kämpft die HDP darum, ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden: die Forderungen der kurdischen Bewegung mit denen der Linken in der gesamten Türkei zu verbinden. Dies ist auch verbunden mit einem Ringen um die richtige Strategie. Nach einem überraschend guten Abschneiden bei den Parlamentswahlen 2015 zog die Oppositionspartei erstmals ins Parlament ein. Doch seit der Einführung des Präsidialsystems 2018 hat Erdoğan das Parlament weitestgehend überflüssig gemacht. Seitdem wird die HDP von Linken und ihrer eigenen Basis dafür kritisiert, der eigenen Fraktion zu viel Bedeutung beizumessen und den ausserparlamentarischen Kampf zu vernachlässigen.
Die Partei steht in der Kritik, zu bürokratisch geworden zu sein und sich mehr um Sitze im Parlament zu sorgen, als mit der Basis aktiv zu werden. Das Bündnis, dem die HDP angehört, hatte bei seiner Gründung letztes Jahr betont, dass es nicht um eine reine Wahlallianz gehe, sondern dass der gemeinsame Kampf gegen Erdoğan und seine AKP im Vordergrund stehe.
Intransparent und zentralistisch
Doch genützt hat es nichts. Dabei wäre gerade jetzt angesichts der ausgehöhlten politischen Institutionen und der Wirtschaftskrise das Mobilisierungspotenzial für progressive Kräfte gross. Nicht nur İrfan Aktan, sondern auch andere Beobachter:innen betonen, dass zentralistische Entwicklungen in der HDP zugenommen haben. Für viele Unterstützer:innen der Partei ist es intransparent, wie Entscheidungen getroffen werden. Es gibt kaum noch Basisstrukturen, in denen ein einfaches Mitglied darüber mitentscheiden kann, welche Ausrichtung die Partei haben soll.
Doch die Erwartungen gegenüber einem linken Bündnis, das den Anspruch hat, die Mehrheit der Bevölkerung und all die unterdrückten Gruppen zu vertreten, sind andere. Jahrelang war die HDP der Hoffnungsschimmer der türkischen und der kurdischen Demokrat:innen. Damit sie weiterhin zumindest ein Teil davon bleiben kann, muss sie sich nun der Kritik aus ihren eigenen Reihen stellen.