Kobane-Prozess in der Türkei: Der Bürgermeister als Terrorist

Nr. 21 –

Über hundert prokurdische Oppositionelle sind im sogenannten Kobane-Prozess angeklagt. Die ersten Urteile sind ein gezielter Schlag der türkischen Justiz gegen linke Politiker:innen.

Als Gültan Kışanak, ehemalige Bürgermeisterin der Stadt Diyarbakır, am 18. Mai nach acht Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, trat sie vor die Kameras und sagte: «Was wir eigentlich brauchen, ist nicht die Haftentlassung, sondern Freiheit und Frieden.» Ihr eigentliches Ziel sei nicht, einen Sieg in einem Gerichtsprozess zu erringen, sondern eine gesellschaftliche Grundlage zu schaffen, auf der die Probleme der Türkei gelöst werden könnten. «Wir wollen in einem Land leben, in dem die Frauen frei sind, ebenso wie die unterschiedlichen Völker, in dem der Glaube frei ist und Identitäten und Sprache kein Problem mehr sind», so Kışanak weiter.

«Staatsfeindliche» Proteste

Die Freilassung der ehemaligen Bürgermeisterin ist eine der wenigen positiven Entscheidungen im sogenannten Kobane-Prozess, in dem vergangene Woche nach drei Jahren die Urteilsverkündungen angefangen haben. Angeklagt sind insgesamt 108 Personen, die meisten von ihnen führende Politiker:innen der prokurdischen Partei HDP, die mittlerweile in DEM-Partei umbenannt ist. Unter ihnen sind auch die ehemaligen Kovorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Sie und sechzehn weitere Angeklagte sitzen bereits seit acht Jahren im Gefängnis. Vorgeworfen wird ihnen, im Oktober 2014 die Bevölkerung zu staatsfeindlichen Protesten aufgerufen zu haben und für den Tod von 37 Personen verantwortlich zu sein, die dabei ums Leben kamen.

Die Stadt Kobane – Ain al-Arab auf Arabisch – liegt im Nordwesten Syriens, nur fünfzehn Kilometer entfernt von der türkischen Stadt Suruç, und wird von der kurdisch-syrischen Partei der Demokratischen Union (PYD) regiert. Als der Islamische Staat ab September 2014 eine Grossoffensive auf die Stadt begann, waren es die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ, die mit Unterstützung des US-Militärs Kobane verteidigten.

In der Türkei forderte die damalige HDP-Spitze, die türkisch-syrische Grenze für einen Korridor zu öffnen, um Unterstützung für die Kurd:innen in Kobane leisten zu können. Anfang Oktober 2014 rief die HDP dann ihre Anhänger:innen dazu auf, gegen die Blockade von türkischer Seite auf die Strassen zu gehen. Dort kam es zu Zusammenstössen mit der Polizei sowie Anhängern der islamistischen Partei Hüda Par. In der Folge starben 37 Menschen, für deren Tod Präsident Erdoğan die HDP-Politiker:innen verantwortlich macht. Einen Antrag auf eine Untersuchung der Todesfälle, den die HDP zuletzt 2021 gestellt hatte, wurde im Parlament mit den Stimmen von AKP und MHP abgelehnt.

407 Jahre und fünf Monate

Am Donnerstag vergangener Woche wurden die ersten 36 Urteile gesprochen: 24 Haftstrafen mit einer Gesamtlänge von 407 Jahren und fünf Monaten, darunter 42 Jahre für Demirtaş und 30 Jahre und drei Monate für Yüksekdağ. Verurteilt wurden die Politiker:innen wegen «Beihilfe zur Zerstörung der staatlichen Integrität», «Aufwiegelung zu Straftaten» und «Terrorpropaganda» sowie Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation. Als Beweise wurden fast nur öffentliche Reden der Politiker:innen sowie Beiträge in den sozialen Medien angeführt.

Auch der gerade erst wieder ins Amt gewählte Bürgermeister der Stadt Mardin, Ahmet Türk, wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sobald er diese antritt, würde erneut ein demokratisch gewählter Bürgermeister abgesetzt werden, wie es seit 2015 in fast allen von der HDP regierten Rathäusern der Fall war. So hatte die Regierung etwa erst im April den neu gewählten Bürgermeister von Van absetzen und stattdessen den Kandidaten der AKP einsetzen wollen. Dank grosser Proteste ist es der Linken in diesem Fall aber gelungen, dies zu verhindern.

Für die Opposition ist klar, dass die Urteile im aktuellen Prozess politisch motiviert sind. Nicht nur seien die Beweislage für das hohe Strafmass und die drastischen Anklagen unzureichend. Auch der politische Einfluss der ultranationalistischen MHP auf die Justiz sei bei politischen Verfahren deutlich zu erkennen.

Mit der erneuten Verurteilung von Selahattin Demirtaş setzt sich die türkische Justiz auch über das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinweg, der 2020 dessen unverzügliche Freilassung angeordnet hatte. Gegen die Haftentlassung der Politiker:innen Gültan Kışanak, Sebahat Tuncel und Ayla Akat hat die türkische Staatsanwaltschaft bereits Revision eingelegt.