Kenia: Mark Zuckerberg über dem Sofa

Nr. 27 –

Nairobis Slum Kibera wird von Protesten erschüttert. Die Jugend hat es satt, sich auf NGOs und den Staat zu verlassen – und ermächtigt sich selbst. Besuch in einem Gemeinschaftsgarten und einem Musikstudio.

Kibera

An einem heissen Sonntagvormittag Ende März hat sich nahe des Kibera Community Center eine grössere Gruppe vorwiegend junger Männer versammelt. Sie stehen um ein kleines, improvisiertes Podest. Die Mauer dahinter ist besprüht mit dem übergrossen Gesicht Raila Odingas, des Präsidenten der Koalitionspartei Azimio la Umoja (Erklärung der Einheit), die aktuell in der Opposition ist. Azimio hat für den folgenden Tag zu Protesten aufgerufen. Schon eine Woche zuvor kam es in der kenianischen Hauptstadt Nairobi sowie im nordwestlich gelegenen Kisumu immer wieder zu Demonstrationen und zu Ausschreitungen zwischen den Demonstrant:innen und der Polizei – mit Kibera als einem der Hotspots.

Raila Odinga und seine Azimio-Bewegung haben im vergangenen August die Wahlen verloren. Es siegte William Ruto, ein selbsternannter «self-made man» und «hustler», ein Mischler, der einst als Hühnerverkäufer begann und zu den reichsten Männern des Landes aufgestiegen ist (vgl. «Hohe Preise, andauernde Proteste» im Anschluss an diesen Text). In Kibera sind die Menschen von Ruto genauso enttäuscht wie von den meisten Präsidenten vor ihm. Sein Versprechen, die Lebenshaltungskosten zu senken, hat er bislang nicht eingelöst. Die aktuelle Regierung habe kein Gehör für die Sorgen der Ärmsten, sagt der 31-jährige Aktivist Alfred Ayoro, der in Kibera aufgewachsen ist und an diesem Nachmittag durch den grössten Slum Nairobis führt. «Im Gegenteil, die Menschen in den Slums werden stigmatisiert.» Nicht nur in Kibera, sondern auch in den meisten der insgesamt fünfzehn Slums in Nairobi fänden an diesem Sonntag deshalb Pro-Odinga-Veranstaltungen statt.

Alfred Ayoro
Alfred Ayoro ist in Kibera aufgewachsen, heute studiert er Kriminologie. Auf den Strassen weist er Polizist:innen genauso zurecht wie Drogendealer:innen.

Die von der Opposition befeuerten Proteste begannen am 20. März. Strassen wurden an diesem Tag blockiert, Barrikaden angezündet, Geschäfte geplündert. Demonstrierende warfen Steine, die Polizei ging mit Tränengas und scharfer Munition gegen sie vor, über 200 wurden verhaftet. Ein Student wurde erschossen und über 20 Polizist:innen verletzt.

Vermittler für das Recht

Einer nach dem anderen besteigt vor dem Community Center das Podest, um den elenden Alltag in Kibera anzuklagen. Es geht um fehlende Ausbildungsmöglichkeiten und Jobs, die Mehrheit der Slumbewohner:innen arbeiten im informellen Sektor, viele leben mit weniger als 2,15 US-Dollar am Tag, der Grenze zur absoluten Armut. Es geht den Menschen, die das Podest besteigen, auch um fehlende Trinkwasserversorgung und nicht vorhandene sanitäre Anlagen, um Kriminalität und Schüler:innen, die von Lehrer:innen geschlagen werden, weil sie im Unterricht einschlafen oder nicht folgen können. Viele von ihnen essen nur einmal am Tag.

Das dominierende, alles umspannende Thema sind jedoch die gestiegenen Lebenshaltungskosten. Aufgrund von Versorgungsengpässen und einer Inflation von rund 9 Prozent sind sie in Kenia auf einen Höchststand geklettert. Das Benzin kostet 40 Prozent mehr als noch im Januar, der Preis für Maismehl, eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel, stieg in einem Jahr um 33 Prozent. «Hier werden die zentralen Themen des Slums behandelt, von denen die Regierung nichts hören will», sagt Ayoro – und fragt: «Wieso sind die grossen nationalen Medien heute nicht hier und berichten über unsere Forderungen? Wieso werden sie morgen wieder nur die Proteste und die Gewalt zeigen?»

Ayoro, der nach dem frühen Tod seiner Eltern bei seiner Stiefmutter aufgewachsen ist, studiert heute Kriminologie an der Universität Nairobi. Bei ihm zu Hause liegen nicht nur Managementhandbücher auf dem Bücherstapel, sondern auch der «Code of Conduct» der kenianischen Polizei. Diese kontaktiert ihn gerne als Vermittler. Dann weist Ayoro Polizist:innen genauso zurecht wie Drogendealer:innen und Kleinkriminelle. «Ich bin in erster Linie ein Friedensaktivist», sagt er. «Ich bin auf der Seite des Rechts und derjenigen, die Hilfe benötigen.»

Da der Staat in Kibera grösstenteils durch Abwesenheit auffällt, begann Ayoro schon früh, sich ehrenamtlich für bessere Lebensbedingungen im Slum einzusetzen. Wasserversorgung, Toiletten, Abfallentsorgung und Gesundheitsversorgung – praktisch alle «services» hier werden von den Bewohner:innen selbst getragen. Ayoro mobilisierte Jugendliche für Aufräumaktionen, half Uno-Organisationen bei der Durchsetzung von Covid-19-Massnahmen im Slum, baute soziale Treffpunkte auf, wo Hochzeiten gefeiert werden und Jugendliche Fussball schauen.

Zusätzlicher Stress durch Klima

In Sarang’ombe, einem der «villages» von Kibera, zeigt Ayoro einige Baracken, die dicht am Lauf des Flusses Nairobi liegen. Die meisten sind aus mit Lehm verkleideten Eukalyptusstämmen gebaut, auf denen ein Wellblechdach liegt. Bis zu acht Personen leben in solchen «shacks» auf einer Fläche von acht bis zehn Quadratmetern. Der Fluss ist eine Kloake; es stinkt nach Fäkalien. Die Exkremente aus den Latrinen, die sich bis zu fünfzig Haushalte teilen, müssen regelmässig weggeschaufelt werden und landen im Fluss. Soeben hat die Regenzeit begonnen, und gestern Nacht schüttete es wie aus Giesskannen. Die flussnächsten Behausungen wurden überflutet. Die Bewohner:innen hätten sich diesmal rechtzeitig retten können, erzählt Ayoro. Anders als im Frühjahr 2021, als in Kibera bei Unwettern vier Menschen umkamen und Hunderte ihr Zuhause verloren.

«Die Regenzeiten sind kürzer als früher, dafür fällt in wenigen Stunden viel mehr Regen. Dadurch nehmen die Überschwemmungen zu.» Durch die immer offensichtlicheren Auswirkungen der Klimakatastrophe hätten der alltägliche Stress und das Gefühl der Unsicherheit im Slum zugenommen. «Viele werden psychisch krank, vor allem Frauen, die meist die Verantwortung für die Familie tragen.»

In Sarang’ombe ist der unbefestigte Weg noch matschig. Er ist von Abfallhaufen gesäumt, auf denen streunende Hunde und Hühner nach Essbarem suchen. Aus dem Müll ragen fingerdicke, farbige Plastikrohre. «Darüber wird Abwasser in den Fluss geleitet und – illegal – Wasser von den Hauptleitungen für die Haushalte abgezweigt», erklärt Ayoro. Die Rohre sind oft brüchig. Bersten sie, werden die Tümpel aus Abfall, Abwasser und Exkrementen zu perfekten Brutstätten für durch Wasser übertragene Krankheiten wie Typhus und Cholera. «UN Habitat, das Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen, hat seinen Hauptsitz in Nairobi, er liegt nur fünfzehn Kilometer von hier entfernt», sagt Ayoro mit Wut in der Stimme. «Wie ist es möglich, dass hier trotzdem etwa neunzig Prozent der Menschen keinen sicheren Zugang zu sauberem Trinkwasser haben?»

Auf sich alleine gestellt, packen die Bewohner:innen des Slums die zentralen Probleme selbst an. Ayoro zeigt auf Schläuche, die in der Luft hängen. Von einem der wenigen mehrstöckigen Häuser auf einer leichten Anhöhe am Rand Sarang’ombes führen sie über hellblau gestrichene Pfeiler, die aus dem Dächermeer herausragen, in die «villages». Sie versorgen zwanzig Wasserkioske mit sauberem Trinkwasser aus einer geprüften Grundwasserquelle. Aufgebaut hat dieses System Kennedy Odede, der Gründer von Shining Hope for Communities (SHOFCO), der selbst in Kibera aufgewachsen ist. Für fünf kenianische Schilling, rund fünf Rappen, können die Bewohner:innen an den Kiosken einen Zwanzigliterkanister mit Wasser füllen. Das Wasser ist damit zwar noch immer teurer als in den Apartments in den besseren Wohngebieten, aber für die meisten immerhin erschwinglich. Weil SHOFCO die Leitungen in die Luft verlegt hat, gibt es nun weniger Rohrbrüche, weniger Kontamination von Frischwasser und damit auch weniger Infektionskrankheiten.

Garten gegen die Hitzeinsel

Auf einem Platz in Makina, einem benachbarten «village», spielen einige Jungs Fussball. Dahinter eröffnet sich, abfallend zu einem kleinen Bach hin, eine grüne Oase. An deren linkem Rand befinden sich zwei Gewächshäuser mit Tomaten und Peperoni, daneben stehen Männer in Beeten mit Mais, Maniok und Grünkohl und jäten Unkraut. Rechts davon wächst ein kleiner Wald mit Eukalyptus, Macadamia und dem einheimischen Kroton, auch «Wunderstrauch» genannt. Geschaffen haben diesen Garten Khalid Munir und Timothy Mulei. «Was du hier siehst, war einmal eine Mülldeponie», erzählt Mulei. «Überall lag Abfall, es stank fürchterlich, und man musste sich vor Schlangen und Ratten in Acht nehmen.»

Gartenprojekt von Timothy Mulei und Khalid Munir
«Was du hier siehst, war eine Mülldeponie»: Im Gartenprojekt von Timothy Mulei und Khalid Munir werden heute Tomaten und Peperoni, Mais, Maniok und Grünkohl angebaut.

Gemeinsam mit einer Handvoll Freunden schaufelten die beiden Männer vor sieben Jahren den Abfall weg.

Zuerst hätten die Nachbar:innen geglaubt, sie wollten sich den Boden unter den Nagel reissen, um ihn Neuankömmlingen – meist Menschen, die aus dürregeplagten Regionen in die Stadt migrieren – zu verpachten und damit in die eigene Tasche zu wirtschaften. Die ersten Baumsetzlinge wurden von Unbekannten geköpft, und in der Nacht wurde weiterhin Abfall abgeladen. «Die ersten drei Jahre waren sehr schwierig, niemand glaubte an uns, und die Böden gaben praktisch nichts her», erzählt Mulei. Die Männer hatten keine Erfahrung mit Gartenbau und Landwirtschaft. Allen Widerständen zum Trotz machten sie weiter, pflanzten neue Bäume und schafften den Abfall wieder weg. Irgendwann spendete jemand einen Wassertank, später kamen ein Gewächshaus, dann einige neue Baumsetzlinge hinzu. Heute hat der Garten seine eigene Baumschule und eine Kompostproduktion. Vierzig Volontär:innen sorgen für den Unterhalt. Sie kommen, wann immer sie Zeit dafür finden. Munir ist der Einzige, der immer da ist und dafür ein kleines Einkommen erhält.

Weiter unten hat sich ein älterer Mann in den Schatten eines Eukalyptusbaums am Fluss gesetzt, die Augen hat er geschlossen. Heute kämen viele zum Meditieren hierher, erzählt Munir. «Sie suchen einen kurzen Moment der Ruhe im chaotischen Alltag des Ghettos. Und so viel Ruhe wie hier findest du sonst nirgends in Kibera – ausser vielleicht auf dem Friedhof.» Laut UN Habitat sind zwei Prozent der Fläche Kiberas öffentlicher Raum – und davon ist nur ein kleiner Bruchteil begrünt. «Grünflächen sind in Nairobi den Reichen vorbehalten», sagt Mulei. «Im Ghetto gibt es keine Parks und praktisch keine Bäume.» Viele kämen in den heissesten Monaten hierher, um dem aufgeheizten Sand, Beton und Wellblech zu entfliehen. Nairobi liegt nahe dem Äquator und im tropischen Gürtel.

2015 haben Forschende der US-amerikanischen Johns-Hopkins-Universität Thermometer in den Slums von Nairobi verteilt und herausgefunden, dass die Temperaturen dort bis zu sechs Grad höher sind als bei den offiziellen Messstationen. Die Ärmsten in den Slums leiden mehr als alle anderen unter der globalen Erhitzung und dem Phänomen der städtischen Hitzeinseln.

Timothy Mulei und Khalid Munir
«Wir wollen die Einstellung der Menschen ändern»: Timothy Mulei und Khalid Munir.

Munir und Mulei geht es aber um mehr als um Ruhe und Schatten. «Wir wollen mit diesem Garten auch die Einstellung bei unseren Mitmenschen ändern; sie sollen hier sehen, was möglich ist», sagt Munir. Heute reichen das produzierte Gemüse, das Getreide und die Nüsse nur für den Eigenbedarf. Doch mittelfristig soll die Ernte auf den Märkten verkauft werden und einen Beitrag zur Ernährungssouveränität im Slum leisten, Jobs und Einkommen generieren. Munir hat Bücher gesammelt und sich damit in Botanik weitergebildet. Er möchte bald eine kleine Bibliothek im Garten aufbauen, «damit unsere Nachbarn hier auch mehr über den Wert der Natur lernen können».

Ungeklärte Landfragen

Wer mit Alfred Ayoro in Kibera unterwegs ist, kommt nicht weit. «As-salamu alaykum, brother. How are you?», tönt es an allen Ecken. Man erkundigt sich gegenseitig nach dem Wohlergehen der Familie, tauscht die aktuellen Handynummern aus und verspricht sich, bald einmal auf eine Tasse Tee vorbeizukommen. Ayoros Mutter war Muslimin und Nubierin, sein Vater ein Christ und Luo; Ayoro ist in verschiedenen Religionen und Kulturen zu Hause, spricht neben Suaheli mehrere lokale Sprachen, fliessend Englisch und ein wenig Chinesisch. Er hat sich einen Ruf erarbeitet als jemand, dem es leichtfällt, über kulturelle, religiöse und sprachliche Gräben hinweg zu vermitteln.

Im Innenhof einer Primarschule sind vor einem Rednerpult ein paar Dutzend Plastikstühle aufgereiht. In bulligen, blitzblank gescheuerten Toyota-Land-Cruisern werden Männer in dunklen Anzügen herangekarrt. Frauen in knallfarbigen Röcken und hautengen Jeans kommen gemeinsam mit Kolleginnen, die einen Hidschab tragen; Männer in weissen Gewändern, der Galabija, stehen neben solchen mit Sneakers und Baseballcaps. Bei der Veranstaltung geht es um Eigentumsrechte für Boden – ein explosives Thema.

Da sämtlicher Boden in Kibera dem Staat gehört, gelten die Bewohner:innen der «informellen Siedlung» bis heute als Besetzer:innen. Sie können jederzeit ohne Vorwarnung ihr Zuhause verlieren.

Zuletzt geschah das 2018, als die Baracken von 2000 Familien mit Bulldozern plattgemacht wurden. Sie mussten einer zweispurigen Schnellstrasse zu den «besseren» Vierteln der Stadt weichen. Die Wut in Kibera war gross. Praktisch niemand im Slum besitzt ein eigenes Auto, die meisten sind zu Fuss unterwegs und können sich oft nicht einmal eine Fahrt mit einer Bodaboda, einem Motorradtaxi, oder einem Uber leisten. Kürzlich erzielte die nubische Gemeinschaft, Nachfahren der ersten Bewohner:innen Kiberas aus dem Südsudan, einen Erfolg, indem sie sich die Rechte für 116 Hektaren Land erkämpfte. Das führte zu Spannungen, weil sich entlang der Ethnien Bruchlinien offenbaren, die von Politiker:innen in der Vergangenheit immer wieder «bewirtschaftet» wurden.

Ohne soziale Medien geht nichts

Kibera ist ein Schmelztiegel verschiedener Ethnien und Kulturen. Aktuell sind die Luo aus Westkenia mit über dreissig Prozent die grösste Gruppe im Slum. Das erklärt zumindest teilweise, weshalb Oppositionspolitiker Raila Odinga, selbst ein Luo, in Kibera starken Rückhalt hat. Auf der Veranstaltung wird die Forderung diskutiert, Landtitel auch an Gruppen ausserhalb der nubischen Gemeinschaft zu vergeben. Die Stadt hat in einen Dialog eingewilligt. «Doch bis zu einer Lösung wird es Jahre dauern», sagt Ayoro.

An der öffentlichen Debatte nimmt auch Moses Omondi teil. Der 42-Jährige trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift «Rusty roofs, unrusty minds» (rostige Dächer, nicht eingerostete Köpfe) – eine Ansage fürs kreative Potenzial in Kibera. «Hier gibt es so viel Talent!», sagt er. «Aber nur zwei Künstler aus Kibera können von ihrer Arbeit leben.» Einer von ihnen ist der Rapper Octopizzo, der mittlerweile auch international Erfolge feiert. Omondi will nicht warten, bis dieses Talent von irgendeinem gewieften Geschäftsmann in einem Hochhaus in Nairobi, New York oder London entdeckt oder durch eine NGO gefördert wird. «Wir haben die Sozialhilfe satt», sagt er. «Ich will diese Künstler selbst gross rausbringen.» Dafür hat er kürzlich ein eigenes Kreativstudio eröffnet. Die 40 000 US-Dollar Anfangsinvestition für Foto- und Filmkameras, Laptops mit Schnittsoftware, Mischpulte und Mikrofone stammen vom Konzern Meta (ehemals Facebook).

Ohne soziale Medien geht bei Omondi nichts. Sie sind sein zentrales Arbeitsinstrument zum Rekrutieren von neuen Talenten, für die Akquise von potenziellen Kund:innen, für die Promotion seiner Künstler:innen und für Spendenaufrufe, wenn im Slum Baracken abgebrannt sind. Sein Aktivismus und sein Engagement zugunsten der Jugend in Kibera müssen auch den Marketingplaner:innen im Silicon Valley aufgefallen sein: Meta lud Omondi ein, mit seiner Idee für ein Studio um Geld anzusuchen. Er überzeugte alle.

Sein Memo Reverse Hub Studio liegt versteckt hinter einer Zeile von zur Strasse hin geöffneten Baracken, vor denen Frauen Holzkohle, Mangos, Bananen und kleine Samosas verkaufen. Es ist in ein solides einstöckiges Haus aus Backstein und mit Giebeldach eingemietet, wie man sie hier nur selten sieht. Graffitikünstler haben das Haus farbig besprayt und mit einem Spruch versehen: «Embrace all that is you» (Akzeptiere alles, was du bist). Auf dem zugehörigen Umschwung wurden vier «selfie booths» errichtet, weisse Kammern, die bald auch besprayt werden und in denen sich jede und jeder mit einem Smartphone selbst in Szene setzen kann. Vor dem Hauseingang, an einem langen Holztisch, feilen einige junge Menschen an ihren Songtexten.

Über dem Sofa im kleinen Empfangsraum hängt ein Bild von Mark Zuckerberg.

«Kibera ist heute Menschen auf der ganzen Welt ein Begriff. Aber meist aus den falschen Gründen», sagt Otieno Otieno, die rechte Hand Omondis im Studio. In den Medien würden immer wieder dieselben Stereotype kolportiert: die Gewalt, die Drogen und das Elend. Von der hiesigen Kreativität sei weit weniger die Rede. Das spiele der Regierung in die Hände. «Wir müssen beginnen, unsere eigenen Geschichten zu erzählen.» Auf staatliche Kulturförderung warte hier niemand mehr, und die internationalen Förderer, die Alliance française, das Goethe-Institut oder der British Council, setzten auf etablierte Künstler, nicht auf «nobodies» aus dem Slum. «Wir nehmen das mit dem Studio selbst in die Hand.» Unterstützt werden Otieno und Omondi von Künstler:innen, die sich in Kibera bereits einen Namen gemacht haben: Shaddy Mghipuka, Slavey Da Illest, Cilabiez, Tasha Xclusive und Cafu Da Truth.

Es ist später Nachmittag, das Licht wird wärmer, die Temperaturen angenehmer. Die Bodaboda-Fahrer fläzen auf ihren Motorrädern und hören Afrobeats. In der Luft liegt der bissige, salzige Geruch von getrocknetem Fisch. Auf Grills brutzeln Würste, und in Töpfen voller Öl werden Kartoffeln frittiert. Die Sonntagsgottesdienste sind fertig, noch mehr Menschen strömen auf die Wege zwischen den Wellblechdächern. Es wird geschäkert und gelacht; man fällt sich in die Arme und freut sich über einen Schwatz. Überall ist nun Musik. Ein Gefühl der Lebensfreude und Zusammengehörigkeit liegt in der Luft der Gassen, eine «unity», die in Songs aus unzähligen Ghettos dieser Welt gewürdigt, beschworen und glorifiziert wurde. Elend, Mühsal und Marginalisierung als sozialer Kitt.

«Ich musste raus»

Ayoro liebt Kibera – und gleichzeitig hasst er den Slum. Seit kurzem lebt er nicht mehr hier, sondern im angrenzenden Langata, wo die Häuser mehrstöckig und stabiler gebaut sind und wo man diese mit dem Auto über geteerte Strassen erreichen kann. «Es wurde einfach zu viel», erzählt er. «Ich musste raus. Die Not in Kibera ist dermassen gross, dass ständig jemand an deine Tür klopft und dich um Rat fragt. Ich fand keine Zeit und Ruhe mehr, um zu studieren.»

Beim Kibera Community Center ist der Kreis um das Podest inzwischen auf rund 300 Personen angewachsen. Die Stimmung ist friedlich, aber aufgeheizt. Ein Parteifunktionär in kakifarbener Uniform zählt in Suaheli all die Versprechen der Regierung auf, die nicht eingehalten wurden. Er sei bereit, für die Sache zu sterben, und werde seine Familie anweisen, was zu tun sei, sollte er morgen nicht von den Protesten zurückkehren, erzählt er mit viel Pathos. Die Menge klatscht. «Peaceful until provoked» ist die Ansage für Montag – friedlich, bis die andere Seite Gewalt provoziert. Dass es zur Provokation kommen wird, daran zweifelt an diesem Sonntagnachmittag niemand.

Noch am gleichen Abend erklärt der Polizeichef von Nairobi die angekündigten Demonstrationen für illegal. Gleichzeitig kündigt das Innenministerium Gesetzesänderungen an, um die Demonstrationsfreiheit einzuschränken.

Am Montag kommt es im ganzen Land wieder zu heftigen Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstrierenden, auch in Kibera, wo zwei Demonstranten getötet werden. Im Parlament ist später die Rede von Anarchisten und Vandalismus. Einmal mehr ist der Slum in den Schlagzeilen – «for all the wrong reasons», wie Otieno Otieno gesagt hat.

Extreme Ungleichheit: Hohe Preise, andauernde Proteste

Am 9. August 2022 wurde William Ruto (56) äusserst knapp zum neuen Präsidenten Kenias gewählt. Seine Politik gilt als wirtschaftsfreundlich, er schreckt nicht vor schmerzhaften Sparmassnahmen zurück. Doch als erfolgreicher «self-made man» gilt er vielen jungen Kenianer:innen als Vorbild. Rutos Wahl war ein Sieg über die beiden mächtigen und steinreichen Dynastien, die das Land seit der Unabhängigkeit im Jahr 1963 geprägt hatten: die Kenyattas und die Odingas. Rutos Vorgänger Uhuru Kenyatta (61) ist der Sohn des ersten Ministerpräsidenten, Jomo Kenyatta. Raila Odinga (78), der seit 1997 jede Wahl verlor, ist der Sohn des ersten Vizepräsidenten, Oginga Odinga.

Oppositionspolitiker Odinga schafft es immer wieder, die Regierung unter Druck zu setzen. Am 9. März 2023 kündigte er landesweite Proteste gegen das Wahlresultat und die steigenden Lebenshaltungskosten an. Die schwerste Dürre seit vierzig Jahren, Lieferengpässe aufgrund des Krieges in der Ukraine sowie die weltweite Inflation führten dazu, dass die Preise für Mais, Öl und Weizenmehl stark angestiegen sind. Am härtesten trifft es die Ärmsten auf dem Land und in den Slums, wo Odinga grossen Rückhalt hat. Er bezeichnet sich als Sozialisten, der die extreme Ungleichheit beenden will.

Seit seinem Aufruf kam es mehrmals zu gewalttätigen Konfrontationen zwischen Sicherheitskräften und Protestierenden. Am 27. März wurden im Kibera-Slum zwei Demonstranten getötet. Drei Tage später protestierten erneut Tausende und setzten Büros der Regierungspartei in der Stadt Siaya im Westen des Landes in Brand. Nachdem die Regierung einwilligte, Gespräche mit der Opposition zu führen, setzte diese die Proteste aus. Doch als Ruto kürzlich ankündigte, die Steuern für eine Reihe von Produkten und Dienstleistungen, darunter Treibstoff, Geldüberweisungen und Mieten, neu gestalten und teilweise erhöhen zu wollen, kam es wieder zu spontanen Protesten.

Für diesen Monat hat die Opposition grosse Demonstrationen angekündigt. Viele Kenianer:innen fürchten sich vor gewaltsamen ethnischen Ausschreitungen wie nach den Wahlen von 2007. Damals wurden rund 1200 Menschen getötet, eine halbe Million mussten fliehen.