Proteste in Kenia: «… und die in der Politik tragen teure Uhren»
Trotz Zugeständnissen der Regierung will die Jugend Kenias weiter auf die Strasse gehen. Eine Aktivistin über die Ziele der Bewegung – und die Wut auf ein ausbeuterisches System.
WOZ: Wanjiru Kimani, Sie sprechen hier aus Sicherheitsgründen nicht unter Ihrem richtigen Namen. Was haben Aktivist:innen wie Sie in Kenia derzeit zu befürchten?
Wanjiru Kimani: Jeden Morgen erfahren wir von neuen Entführungen. Aktivist:innen, die sich öffentlich zu den Protesten geäussert haben, werden teils am helllichten Tag auf offener Strasse in Polizeifahrzeuge oder nicht gekennzeichnete Autos gezerrt. Manchmal hört man dann zwei oder drei Tage lang nichts mehr von ihnen – obwohl es in Kenia verboten ist, Verhaftete länger als 24 Stunden festzuhalten. Manche berichten von psychischer und körperlicher Folter. Das Ausmass an Überwachung und Einschüchterung ist äusserst beunruhigend, und die Angst ist gross, zur Zielscheibe der Behörden zu werden, die nach Anführer:innen der Proteste suchen.
Dabei liegt eines der Merkmale der Bewegung gerade darin, dass sie ohne Führungsfiguren auskommt. Warum ist das so wichtig?
Die Regierung sucht nach Führungspersönlichkeiten, um die Bewegung zu vereinnahmen. Das haben wir in der Vergangenheit schon erlebt: Kritiker:innen wurde sehr viel Geld angeboten, damit sie mit der Regierung in den Dialog treten. Oder sie wurden getötet. Die Mehrheit der jungen Leute ist sich dessen bewusst; sie wissen, dass die Gesprächsangebote einzig zum Ziel haben, die Bewegung zu lähmen – und dass es nicht darum geht, Übereinkünfte zu finden.
Auch Gewerkschaften und Kirchen haben sich mittlerweile mit den Protestierenden solidarisiert, aber die grösstenteils sehr junge Bewegung will nicht die alten Garden für sich sprechen lassen. Ihr führerloser Charakter ist eine ihrer Stärken. Sie lässt sich nicht vereinnahmen.
Die Proteste
Mitte Mai kündigte die kenianische Regierung eine Haushaltsvorlage mit einschneidenden Steuererhöhungen an. So sollte etwa die Mehrwertsteuer auf essenzielle Güter wie Brot ausgeweitet, Autobesitz und Benzinverbrauch höher besteuert sowie eine «Öko-Steuer» auf importierte Produkte wie Windeln und Monatsbinden eingeführt werden.
Am 18. Juni kam es zu ersten grossen Strassenprotesten, die insbesondere von jungen Menschen getragen wurden. Das Parlament kippte daraufhin Teile der Vorlage, doch die Proteste wuchsen an und weiteten sich auf Dutzende Städte aus. Am 25. Juni stürmten in Nairobi Tausende das Parlamentsgebäude und setzten Teile davon in Brand. Einen Tag später kündigte Präsident William Ruto an, die Vorlage nicht zu unterzeichnen.
Vielerorts reagierten die Sicherheitskräfte mit tödlicher Brutalität: Nach Angaben der Kenya Human Rights Commission vom Wochenbeginn wurden bei den Protesten bislang 39 Menschen getötet, mehr als 360 verletzt und über 600 festgenommen. Mehr als 30 Personen gelten als «verschwunden».
Und trotzdem wirkt die Bewegung enorm gut organisiert. Wie schafft sie das?
Durch viel kreatives Engagement in allen möglichen Bereichen. Zum Beispiel waren Tausende Anwält:innen landesweit bereit, Rechtsbeistand bei Verhaftungen und Grundrechtsverstössen zu leisten. Etwa 3000 Sanitäter:innen haben sich vernetzt, um Verletzte zu versorgen. Um auch die Elterngeneration der jungen Protestierenden zu erreichen, wurde der Inhalt der bekämpften Haushaltsvorlage in Videos in einer Vielzahl lokaler Sprachen erklärt – was auch dabei half, besser an Regionen ausserhalb der urbanen Zentren heranzukommen. Und wir haben Onlineveranstaltungen mit zeitweise 50 000 bis 70 000 Menschen abgehalten.
Sie engagieren sich auf dem Gebiet des Community Organizing und betätigen sich aktivistisch für Queerrechte und gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Wie beteiligen Sie sich an den Protesten?
Ich würde mich als Agitatorin bezeichnen. Ich tauche an bestimmten Orten im öffentlichen und im digitalen Raum auf, um auf Dinge aufmerksam zu machen, die ich für ungerecht halte. So nahm ich auch an den Demonstrationen gegen die Haushaltsvorlage teil, war an zwei der vier grossen Protesttage auf der Strasse. Auch am besonders tödlichen Dienstag letzter Woche, als in Nairobi das Parlamentsgebäude gestürmt wurde – 24 Protestierende kamen dabei ums Leben. Ich habe anschliessend darüber geschrieben und am Freitag ein Treffen organisiert, bei dem die Protestierenden das Geschehene reflektieren und sich über künftige Strategien austauschen konnten. Es ist eine grosse Herausforderung, eine Bewegung aufrechtzuerhalten, die dezentral und führungslos agiert.
Bislang mit Erfolg: Am Mittwoch letzter Woche hat Präsident William Ruto die umstrittene Gesetzesvorlage zurückgezogen. Die Proteste sind aber nicht vorbei. Worum geht es nun?
Ich glaube nicht, dass die Menschen Rutos Entscheid wirklich als Sieg empfinden. Das ist nur der erste Schritt. Der Präsident hat gleichzeitig angekündigt, dass nun neben neuen Schulden auch neue Sparmassnahmen im Staatshaushalt nötig würden, und es wird sich zeigen, wie gewöhnliche Kenianer:innen davon betroffen sein werden.
Mittlerweile gehen die Forderungen ohnehin über die Haushaltsvorlage hinaus; der Hashtag #RejectFinanceBill2024 wurde abgelöst von #RutoMustGo: Der Präsident muss weg. Die Ereignisse der vergangenen Wochen haben eine neue Wut ausgelöst. Es geht um weitreichende politische Reformen. Wir sind immer noch nicht da, wo wir sein wollen.
Wo soll es hingehen?
Die Wut der Menschen richtet sich gegen ein ausbeuterisches System. Die Politiker:innen sagen uns, wir müssten den Gürtel enger schnallen, damit es mit dem Land aufwärtsgehe. Aber die Menschen in Kenia hungern bereits. Sie können die Ausbildung ihrer Kinder, die Gesundheitskosten von Angehörigen nicht mehr zahlen. Sie können sich die Wohnungen ausserhalb der informellen Siedlungen nicht mehr leisten. Und dann sehen wir, dass die Politiker:innen Uhren tragen, die Zehntausende US-Dollar kosten. Dass öffentliche Gelder für Autos und die Renovation von Häusern der Präsidenten- und der Vizepräsidentenfamilie ausgegeben werden. Dass das Budget des Präsidialamts erhöht wird. Dass ein Abgeordneter bei einer Spendenaktion zwanzig Millionen Schilling in Cash abliefert, das sind etwa 155 000 US-Dollar. Sind die verrückt? Woher haben sie solche Summen? Diese frappante Korruption ist aber nur das eine.
Und das andere?
Wir sind uns bewusst, dass es auch die Logik der Bretton-Woods-Institutionen ist, die hinter der Haushaltsvorlage steht. Kenia ist unter grossem finanziellem Druck: Von 100 Millionen Schilling an Steuereinnahmen muss der Staat derzeit 61 Millionen aufwenden, um Auslandsschulden zu bedienen. Wir sehen also, dass der Grossteil des Staatshaushalts gar nicht für die Bedürfnisse der kenianischen Bevölkerung aufgewendet wird – während die Grundversorgung im Land nicht nur stagniert, sondern sich weiter verschlechtert. Wir fordern eine Regierung, die für die Kenianer:innen arbeitet, nicht für die internationalen Institutionen. Und wir fordern Transparenz bei den Schulden, die das Land hat.
Medienberichten zufolge wusste der Internationale Währungsfonds, dass die Haushaltsvorlage Proteste auslösen würde. Dennoch soll er die kenianische Regierung dazu gedrängt haben, sie durchzusetzen. Gleichzeitig gibt es im Parlament derzeit eine Gesetzesvorlage, die es schwieriger machen würde, sich zu versammeln und zu demonstrieren. Sie sehen: Wir müssen uns weiterhin zur Wehr setzen.
Auf vielen Bildern ist zu sehen, wem die Demonstrant:innen dabei gegenüberstehen: hochgerüsteten Sicherheitskräften, die teils scharf schiessen. Wen oder was schützen diese in Ihren Augen?
In erster Linie die Gesetzgeber:innen, von denen wir das Gefühl haben, dass sie uns nicht vertreten. Sie haben uns vorgeworfen, wir seien reiche Vorstadtkinder, die per Uber zu den Protesten fahren, alles mit iPhones filmen und anschliessend bei KFC essen gehen. In den letzten zehn, fünfzehn Jahren waren es in Kenia meist die ärmeren Menschen aus den informellen Siedlungen, die auf die Strasse gingen – und jetzt begreifen die politischen Eliten nicht, warum sich plötzlich auch Mittelschichtskinder den Protesten anschliessen. Natürlich geht es auch um die externen Interessen, die von den Sicherheitskräften verteidigt werden. Aber das läuft auf dasselbe hinaus; Polizei und Militär handeln letztlich ganz einfach im Interesse des Kapitals, zum Schutz des Privateigentums. Sie stehen nie auf unserer Seite. Dabei gesteht uns Artikel 37 der kenianischen Verfassung das Recht auf Protest zu. Unsere Verfassung ist von 2010, sie ist eine der fortschrittlichsten der Welt – und jetzt kämpfen wir dafür, sie auch tatsächlich zu verwirklichen.
Präsident Ruto hat auch gesagt, Kenianer:innen würden mit den neuen Steuern auf Autos und Treibstoff einen Beitrag zur Einhaltung der kenianischen Klimaziele leisten …
… das ist natürlich lächerlich. Afrika ist für weniger als vier Prozent der globalen CO₂-Emissionen verantwortlich – wir sind nicht an der Klimakrise schuld. Die Sache ist ganz klar: Die Welt darf nicht mehr in fossile Brennstoffe investieren. Aber das passiert nicht, und nun sollen stattdessen wir für die reichen Staaten zahlen? Nein, das ist nicht unsere Sache. Die Menschen in Kenia können nur sehr wenig zur tatsächlichen Lösung des Problems beitragen – egal was unser Präsident sagt, um westlichen Regierungen zu gefallen. Er will von ihnen als Klimaaktivist umworben werden. Und als verlässlicher Partner in Afrika, wo der Westen gegenüber China, Russland und anderen geopolitischen Akteuren an Boden verliert. Ruto dachte, dass es seinem Image helfen würde, wenn er als erster kenianischer Präsident seit fünfzehn Jahren von der US-Regierung empfangen wird. Aber die Leute sagen: Was interessiert uns, was in Washington passiert? Uns kümmert einzig, was hier in Kenia los ist.
Wie geht es nun mit der Protestbewegung weiter?
Die Aktionen werden organisch geplant. Für die laufende Woche waren einzelne Proteste angekündigt, etwa vor der IWF-Niederlassung in Nairobi. Ansonsten soll es eine Woche der Trauer und des Gedenkens an jene Menschen sein, die wir verloren haben.
Und was folgt auf die Woche des Trauerns?
Bereits am Sonntag steht «Saba Saba» an: der Siebte Siebte, ein historischer Protesttag in Kenia. Es gibt viele Ideen für einen grossen Tag der direkten Aktionen im ganzen Land.