Staatsumbau in Israel: «Alles ist auf Sand gebaut»

Nr. 31 –

Das Oberste Gericht als Hassobjekt, die Folgen der «Justizreform» für den Rechtsstaat und warum Vergleiche mit Ländern wie Ungarn nicht taugen: Ein Gespräch mit dem Rechtsprofessor Mordechai Kremnitzer.

Demonstration gegen die «Justizreform» in Jerusalem.
«Die Gegner: innendieser Revolution von oben sind extrem hartnäckig»: Demonstration gegen die «Justizreform» in Jerusalem. Foto: Abir Sultan, Keystone



WOZ: Herr Kremnitzer, die israelische Regierung hat letzte Woche den Massenprotesten zum Trotz ein erstes Kernelement der sogenannten Justizreform verabschiedet, die eigentlich vielmehr ein Staatsumbau ist. Wie schockiert waren Sie?

Mordechai Kremnitzer: Es ist schwer, mich von dieser Regierung schocken zu lassen! Ich habe mich in den letzten Monaten daran gewöhnt, dass sie völlig irrational agiert. Insofern musste sie die sogenannte Vernunfts- oder Angemessenheitsklausel unbedingt abschaffen …

Wieso wollte die Regierung eigentlich ausgerechnet diese Angemessenheitsklausel abschaffen?

Für das Gericht ist es manchmal schwierig zu bestimmen, was im Gesetzgebungsprozess genau falsch gelaufen ist. Es hat dann zwar ein klares Gefühl, dass etwas faul ist und es illegale Motive für ein Gesetz gibt – aber da dies nicht bewiesen werden kann, ist die Vernunftsklausel die einzige Möglichkeit, etwas für ungültig zu erklären. Bei der aktuellen Regierung sollte man grosse Angst davor haben, dass sie miese Dinge tut und diese verschleiert, weil sie es gewohnt ist, zu lügen und Falschinformationen zu verbreiten. Das Instrument, um unvernünftiges Handeln der Regierung oder eines Ministers für illegal zu erklären, wird also dringend benötigt. Kann es in Zukunft nicht genutzt werden, ermöglicht dies willkürliches, irrationales und diskriminierendes Regieren.

Dem Obersten Gericht liegen zahlreiche rechtlich bindende Petitionen gegen die jüngste Gesetzesänderung vor.

Das Gericht wird urteilen müssen, ob die Änderung des Grundgesetzes rechtens ist oder nicht: eine Entscheidung von enormer Bedeutung. Doch von jetzt an bedeutet das nicht unbedingt, dass die Regierung sie auch befolgen wird. Wir könnten also in eine verfassungsrechtliche Sackgasse geraten. Ich persönlich glaube, dass die Regierung nicht so weit gehen wird, den Entschluss des Gerichts zu ignorieren – aus wirtschaftlichen Gründen. Denn wenn sie sich über das Rechtssystem hinwegsetzt, hört Israel auf, ein Rechtsstaat zu sein. Und das hätte auch schwerwiegende ökonomische Folgen. Ich denke, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist sich dessen bewusst. Weil wir über Leute sprechen, die nicht gerade rational handeln, können wir uns aber nicht sicher sein.

Noch hat das Oberste Gericht andere Wege, um das Regierungshandeln zu kontrollieren, nicht?

Ein aktives, kreatives Gericht hat die Möglichkeit, zu manövrieren und sogar neue Gründe für eine gerichtliche Überprüfung zu schaffen. Aber – und das ist ein grosses Aber – damit dies geschehen kann, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Das Gericht muss auch tatsächlich aktiv und kreativ sein – was unseres nicht ist. Es neigt stattdessen dazu, konservativ und sehr auf die nahe Zukunft fixiert zu sein. Und wenn in Kürze drei der kreativeren Richter:innen, unter ihnen auch Präsidentin Esther Hayut, in den Ruhestand gehen, wird es noch konservativer. Die Innovationskraft hängt aber auch vom gesellschaftlichen Klima und dem Verhältnis zwischen Gericht und politischen Institutionen ab. Das Oberste Gericht in Israel wird seit rund zwanzig Jahren dämonisiert – und diese Haltung breitet sich in der Gesellschaft immer weiter aus. Es wird ihm also extrem schwierig gemacht, kreativ zu sein.

Wieso schlägt dem Obersten Gericht so viel Hass entgegen?

Die Aufgabe des Obersten Gerichts ist der Schutz der Menschenrechte, insbesondere jener von Minderheiten. Die wichtigste Minderheit, die in Israel geschützt werden muss, ist die arabische. Aber es geht auch um die Rechte der Palästinenser:innen im Westjordanland und jene von Geflüchteten. Die israelische Bevölkerung hat allerdings nicht viel Interesse am Schutz dieser Rechte. Das Gericht hat also eine Agenda, die liberaler und progressiver ist als die Ansichten der Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit. Hinzu kommt wie erwähnt, dass die Regierung das Gericht seit mindestens zwanzig Jahren auf sehr bösartige Weise angreift.

Der Rechtsexperte

Mordechai Kremnitzer wurde 1948 in Deutschland geboren. Er ist emeritierter Juraprofessor der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine Schwerpunkte liegen unter anderem im Bereich Verfassungs- und Strafrecht, Erziehung zur Demokratie und Menschenrechte. Er war Vizepräsident des Israelischen Demokratieinstituts.

Diesen Frühling leitete Kremnitzer gemeinsam mit Lukas Bärfuss ein Seminar an der Universität Zürich mit dem Titel «Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – ‹radikal Böses› in Recht und Literatur».

Die derzeitigen Ereignisse in Israel werden immer wieder mit der Lage in Ungarn, Polen und anderen Ländern verglichen, in denen autoritäre Systeme etabliert wurden. Ist dieser Vergleich in Ihren Augen angemessen?

Der grosse Unterschied ist, dass die Besatzung die Demokratie sowieso langsam tötet – dieses Problem haben Polen oder Ungarn nicht. Und die extremen Elemente in der Regierung – die messianischen, fanatischen – sind in ihren Ambitionen und Bestrebungen extremer als die Regierungen in Ungarn und Polen. Das Regime in Israel zu ändern, ist leichter, weil wir keine Verfassung haben; ausserdem können unsere Grundgesetze ohne Weiteres revidiert werden. Es ist also alles auf Sand gebaut. Aber anders als in Ungarn und Polen sind die Gegner:innen dieser Revolution von oben extrem hartnäckig, und es sind so viele, dass sie diesen Prozess möglicherweise stoppen können. Wir können zudem die Möglichkeit nicht ausschliessen, dass die Regierung zusammenbrechen wird.

Sehen Sie das kommen?

Nein, aber das heisst nicht, dass es nicht trotzdem dazu kommt. Wenn Sie mich vor einem Jahr gefragt hätten, ob ich mir vorstellen kann, dass Hunderttausende von Israelis gegen die Pläne der Regierung kämpfen, hätte ich auch Nein gesagt. Netanjahu sieht sich politischen Kräften gegenüber – ich spreche von den extrem rechten Ministern Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir –, wie er ihnen noch nie begegnet ist. Das macht die Regierung vielleicht weniger stabil, als sie scheint. Auch könnten einige Likud-Mitglieder auf den Plan gerufen werden, die sich immer noch in gewisser Weise einem demokratischen Staat verpflichtet sehen. Ich kann eine Opposition aus den eigenen Reihen also nicht ausschliessen. Und man sollte auch den Gerichtsprozess gegen Netanjahu berücksichtigen – eine der Hauptmotivationen für den ganzen Umbau. Wenn es dort eine Einigung gibt oder der Prozess endet, werden wir eine andere Situation haben.

Anti-Besatzungsaktivist:innen weisen immer wieder darauf hin, dass nichtdemokratische Massnahmen im Westjordanland schon lange Anwendung finden und insofern nichts Neues sind.

Ja. Kluge Leute wie der Philosoph Jeschajahu Leibowitz haben schon früh davor gewarnt, dass die Besatzung uns zerstören wird. Für mich ist klar, dass man Praktiken und Meinungen, die in der israelischen Besatzung des Westjordanlands geprägt wurden, nicht isolieren kann: Sie dringen über die grüne Linie nach Israel ein. Am Slogan der Friedensbewegung «Die Besatzung besetzt Israel» ist deswegen viel Wahres dran.

Mordechai Kremnitzer
Mordechai Kremnitzer

Glauben Sie, die Regierung wird auch die weiteren Schritte der Justizreform durchziehen?

Es ist sehr schwer, die Zukunft vorauszusehen. Nach der Sommerpause soll der Plan zur Besetzung des Komitees zur Ernennung der Richter:innen wieder auf den Tisch kommen. Ursprünglich war die Idee, die gesamte Macht in diesem Ausschuss an die Regierungskoalition zu übergeben. Selbst Justizminister Yariv Levin sagte in einem Moment der Freimütigkeit, Israel werde nach dieser Änderung keine normale Demokratie mit Gewaltenteilung mehr sein. Wir hätten dann keine unabhängige Justiz mehr, weil die gesamte Macht in den Händen der Koalition liegen würde. Jetzt gibt es einen weniger drastischen Vorschlag: Auch die Opposition soll beteiligt werden – doch die Koalition hätte noch immer fast unbegrenzte Macht. Das wäre eine Katastrophe, es würde die Judikative zerstören und die Ernennung von Richter:innen zu einer politischen Angelegenheit machen: Sie wären Diener:innen der Regierung. Kommt dieses Gesetz durch, kann man leicht sagen, dass Israel keine Demokratie mehr ist.

Das sind ziemlich furchterregende Aussichte­­n.

Sehr sogar. Aber wir müssen optimistisch bleiben – wir sind nicht machtlos. Es hängt nun viel davon ab, was in verschiedenen Bereichen passiert. Von der Sicherheitssituation etwa, die natürlich von den Reservist:innen beeinflusst wird, die gerade sagen: «Ich verweigere meinen Freiwilligendienst angesichts des Abbaus der Demokratie.» Es hängt aber auch von der wirtschaftlichen Situation ab, von der Hartnäckigkeit der Proteste und natürlich auch davon, ob das Gericht die jüngste Gesetzgebung für ungültig erklärt. Die israelische Gesellschaft hat ihr schönes Gesicht gezeigt: die Bereitschaft, für die Demokratie zu kämpfen. Wenn man einen Krieg führt, muss man davon ausgehen, dass man gewinnen wird.