Staatsumbau in Israel: Wenig Kraft gegen Netanjahu
Die umstrittene Justizreform ist vorerst gestoppt. Doch für Israels Linke ist es ein bitterer Sieg – zu sehr belastet der Krieg die Menschen im Land.
Shikma Bressler war das Gesicht der israelischen Demokratiebewegung. Unermüdlich mobilisierte die Teilchenphysikerin gegen den von der rechtsextremen und ultrareligiösen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu geplanten Staatsumbau. Sie sass auf Podien, sprach vor Zehntausenden auf der Bühne, gab Interviews. Heute wartet sie. Auf das Ende des Krieges. Auf das, was danach mit der amtierenden Regierung passieren mag. Bressler wartet auf Neuwahlen.
Die Massenproteste gegen die Justizreform, zu denen im letzten Jahr Hunderttausende von Israelis auf die Strasse gingen, scheinen in diesen Tagen wie ferne Schatten aus einer anderen Welt. Der Überfall der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 setzte den landesweiten Demonstrationen ein Ende. Genauso wie, zumindest vorerst, dem geplanten Staatsumbau.
«Eine Erleichterung, mehr nicht»
Anfang Januar kippte das Oberste Gericht den ersten Teil der Justizreform, die die Demokratie ausgehöhlt hätte. In normalen Tagen wäre die Entscheidung des Gerichts für Millionen von Israelis Grund für Jubel gewesen. Eine von der Knesset verabschiedete Änderung eines Grundgesetzes – die Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel – sei nicht rechtmässig, erklärte das Gericht. Die Änderung der Klausel sollte dem Obersten Gericht die Möglichkeit nehmen, Entscheidungen der Regierung als «unangemessen» einzustufen und ausser Kraft zu setzen. Die Jurist:innen erklärten, sie hätten die Klausel «wegen des schweren und beispiellosen Schadens für die grundlegenden Charakteristika des Staates Israel als ein demokratischer Staat» gekippt. Das Parlament hatte das Gesetz zur Einschränkung der Justizbefugnisse im Juli trotz anhaltender Proteste mit knapper Mehrheit verabschiedet. Netanjahus Regierung, eine Koalition aus seiner Likud-Partei und rechtsextremen sowie ultraorthodoxen Parteien, will die Gesetzesänderungen, um die Machtverhältnisse bei der Gewaltenteilung zu eigenen Gunsten neu zu regeln.
«Die Entscheidung des Obersten Gerichts war eine Erleichterung, mehr nicht», erklärt die Aktivistin Bressler am Telefon. «Wir müssen uns jetzt um eine Sache weniger Sorgen machen.» Wie die meisten Israelis treibt sie derzeit vor allem die Völkermordklage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof um, die sie für antisemitische Hetze hält. Viele fürchten sich vor einer Eskalation im Norden Israels und vor einem weiteren Krieg mit der libanesischen Hisbollah, den viele Israelis für unvermeidlich halten. Noch immer sind knapp 100 000 Israelis angesichts täglicher Gefechte an der Nordgrenze evakuiert und leben in vorübergehenden Unterkünften im Zentrum des Landes. Hinzu kommt das alles bestimmende Thema: die Geiseln, die noch immer im Gazastreifen festgehalten werden. Etliche von ihnen sind bereits für tot erklärt worden. Die Verzweiflung der Angehörigen ist riesig und allgegenwärtig. Noch immer hängen Bilder der Verschleppten überall in den Strassen. Richteten sich die Massen einst gegen den Staatsumbau, so demonstrieren heute jede Woche Zehntausende für die sofortige Rückkehr der Geiseln und fordern von der Regierung, alles dafür zu tun, sie zurückzubringen.
In Kriegszeiten geschlossen
Angesichts der Dringlichkeit verblasst derzeit das Thema Staatsumbau. Der Verfassungsrechtsexperte Adam Shinar ist wie Bressler erleichtert über den Gerichtsentscheid. Einen Erfolg sieht er im Urteil jedoch nicht. Denn vorläufig beendet habe den Staatsumbau schon der Krieg: Mit der Schaffung eines Kriegskabinetts, dem auch der Oppositionsführer und frühere Verteidigungsminister Benny Gantz beitrat, ging die Vereinbarung einher, dass die reguläre Regierung keine Gesetze erlassen darf, die nicht mit dem Krieg zusammenhängen – damit wurde auch die Justizreform auf Eis gelegt. Doch eine Wiederaufnahme der Reform nach dem Krieg hält Shinar für durchaus möglich. Denn die Entscheidung am Obersten Gerichtshof war sehr knapp – und zwei der Richter, die die Gesetzesänderung für illegal erklärten, sind nach diesem Urteil in den Ruhestand getreten. Sie könnten bald durch konservative Richter:innen ersetzt werden. Ob das der Fall sein wird, hängt auch davon ab, wie es mit der Regierung weitergeht.
Das Vertrauen der israelischen Gesellschaft in die Regierung ist am Boden. Viele glauben, dass die Regierung es nicht geschafft hat, die israelische Bevölkerung zu beschützen – und dies auch weiterhin nicht schafft. Gemäss Meinungsumfragen gehen drei Viertel der Israelis davon aus, dass sich die Koalition nach dem Ende des Krieges nicht wird halten können. Trotzdem gibt es momentan wenig Protest gegen die Regierung. Für die meisten gilt: In Kriegszeiten geht man nicht gegen die Regierung auf die Strasse.
Roy Fabian fehlte in den vergangenen Monaten bei kaum einem Protest gegen den Staatsumbau. Der Architekt protestiert auch in diesen Tagen wieder – sowohl im Rahmen der riesigen Demonstrationen, die die Rückkehr der Geiseln fordern, als auch bei den kleineren Protesten, bei denen es um die sofortige Absetzung der Regierung geht. Doch es sei ein merkwürdiger Aktivismus, erklärt er – ein Versuch, gegen das Gefühl der Lähmung und der Ohnmacht anzukommen. All die Slogans für die Freilassung der Geiseln und gegen Netanjahu würden sich schwach anhören, selbst wenn es Tausende seien, die sie riefen, so Fabian.
Am 7. Oktober wurden grosse Teile der israelischen Gesellschaft retraumatisiert; Holocaustbilder wurden evoziert. Vielen Israelis ist darüber, zumindest vorerst, die Empathie für die palästinensische Seite abhandengekommen – auch einigen, die sich zuvor für Verständigung starkgemacht hatten. Demonstrationen, auf denen ein Waffenstillstand gefordert wird, laufen nur sehr schleppend an. Die Enttäuschung angesichts des Schweigens der internationalen Linken nach den Gräueltaten sitzt bei vielen Israelis tief, auch in der ehemaligen Protestbewegung. Viele sind besorgt ob der internationalen Reaktion auf den Konflikt und ob der zunehmenden Isolation Israels. «Rechte Israelis sagen in der Regel: ‹Die ganze Welt ist gegen uns›», erklärt Fabian. «Ich fand diesen Satz immer dumm. Und frage mich jetzt: Ist er wirklich so dumm? Teile der internationalen Öffentlichkeit verabscheuen vielleicht das syrische, das iranische, das chinesische Regime. Aber sie hassen nicht die Bevölkerung. In Bezug auf Israel ist das anders. Viele freuen sich, wenn Israelis getötet werden.»
Immer noch gegen Netanjahu
Inmitten der sich rasant entwickelnden Ereignisse und unter einer rechtsextremen Regierung sei es schwer, so Fabian, handlungsfähig zu bleiben: «Wir dachten, wir könnten es mit Netanjahu aufnehmen. Aber die Situation ist derart ausser Kontrolle geraten, dass es sich anfühlt, als würden wir von einem riesigen Ereignis verschluckt. Und wir können nur hoffen, dass das Land noch intakt ist, wenn wir am anderen Ende herauskommen.»
Shikma Bressler, die einstige Ikone der Demokratiebewegung, klingt müde. «Keiner von uns will derzeit wieder monatelang auf die Strasse gehen», sagt sie. «Niemand hat die Kraft dafür.» Doch dann sagt sie auch noch dies: «Die Regierung hat ihre Legitimation verloren. Wenn sie nicht freiwillig zurücktritt, werden wir dafür sorgen.»