Erwachet!: Normal im August

Nr. 32 –

Michelle Steinbeck macht Siesta mit Nachrichten

«Eine Ära geht zu Ende.» So twittert der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach aus seinem Italienurlaub und prophezeit: Für Sommerferien in Südeuropa werde es, wenn es so weitergehe, bald zu heiss.

«Heiss», stöhnt auch unser cilentanischer Ferienwohnungsvermieter. Ich nicke höflich hinter meinem Bildschirm hervor, während er schon den Liegestuhl neben mir aus dem Schatten über die Terrasse schleift. Breitbeinig lässt er sich hineinfallen und seine Eier in der Mittagssonne braten. Ich beschliesse, meine Siesta im Haus weiterzuführen.

Ich lese, dass Italien jährlich sechzig Millionen Euro Strafe an die EU zahlen muss, weil im Süden mangels Kläranlagen Abwässer direkt ins Meer geleitet werden. Ich lese, dass Paolo Sorrentinos Film über Berlusconi auf keiner italienischen Streamingplattform verfügbar ist; stattdessen gibts angeordnete Staatstrauer.

Ich sehe Bilder von Palermo: Feuer, das sich vom Hügel in die Stadt hinabfrisst. Rennende Tourist:innen auf Rhodos, im Hintergrund die Flammenwand. Ich denke an die Waldbrände, die uns vor zwei Jahren in Kalabrien nachts wachgehalten haben. Wir hörten die Lieder des Sängers Calcutta: «Esco o non esco? / Fuori è caldo ma è normale ad agosto / Non ci penso ma poi sudo lo stesso.» (Soll ich raus oder nicht? Draussen ist es heiss, aber das ist normal im August. Ich denk nicht dran, aber dann schwitze ich doch.)

Überschwemmungen in Norditalien, ich klicke durch die Fotos. Nachricht meiner Tante aus Sardinien, es sei 46 Grad. Aber nicht nur meteorologische Rekorde sollen diesen Sommer gebrochen werden: Auch die italienische Tourismusbranche rechnet mit neuen Höchstzahlen. Beliebte Ziele sind ausgebucht, die Hotelpreise etwa in Rom fast doppelt so hoch wie in den Jahren davor. Polizist:innen bewachen die Spanische Treppe: Trillerpfeifen scheuchen diejenigen hoch, die sich auf die Stufen setzen.

Auch an anderen Orten in Südeuropa werden teilweise absurd anmutende Gesetze ausgerufen im Versuch, die Heuschreckenplage des Massentourismus in Schach zu halten. Keine Rollkoffer in der Altstadt; keine Sexpuppen am Strand; Strassen, die abwechslungsweise nur mit ungeraden oder geraden Nummernschildern befahren werden dürfen.

Der Sender Radio Italia («solo musica italiana») macht derweil Stimmung gegen (vorzugsweise US-amerikanische) Tourist:innen. Der Influencerin, die sich beklagt, dass die Amalfiküste zu voll sei, wird entrüstet entgegnet, sie solle doch bitte zu Hause bleiben. Mir fallen Restaurants in Rom ein, die auf der ersten Seite ihrer Speisekarte aggressiv darauf hinweisen, keine italoamerikanischen Gerichte zu kochen: «NO Spaghetti with meatballs, NO Pasta Alfredo!» Lustig gemacht wird sich auch über das Internetphänomen «Europeans don’t drink water»: US-Tourist:innen, die auf Social Media behaupten, sie seien hier die Einzigen, die Wasser tränken; in Italien etwa werde nur Aranciata getrunken.

Ich trete auf die Terrasse, der Vermieter ist verdunstet. Die Sonne steht tiefer, ein warmer Wind streichelt die Babykatzen, die im Schatten mit entzündeten Äuglein blinzeln. Ich öffne eine eiskalte Aranciata, im Kopf die Stimme von Calcutta: «Non mi piace, ma lo ingoio lo stesso.» – Es schmeckt nicht, ich schlinge trotzdem.

Michelle Steinbeck hatte diesen Sommer Glück: Sie hat in den Ferien zwar Hausverbot in einem Restaurant bekommen, aber weder Brände noch Überschwemmungen erlebt.