Sachbuch: Wohnen zum Glück

Nr. 32 –

Zwischen Genossenschaftsbau, Kommunen und alternativen Dorfgemeinschaften: Lars Reichardt erzählt von seinem eigenen Wohnen und recherchiert Alternativen.

Man könne, so Heinrich Zille, einen Menschen mit einer Wohnung ebenso erschlagen wie mit einer Axt. Die Bemerkung des deutschen Grafikers und Künstlers zielte auf die Berliner Mietskasernen des Deutschen Kaiserreichs, in deren Hinterhofblocks zu seiner Zeit vielköpfige Arbeiter:innenfamilien in feuchten Wohnungen hausen mussten, Gemeinschaftstoilette im Zwischenstock. Aber auch für Menschen, die man heute nicht als Proletarier:innen bezeichnen würde, ist die Frage nach ihrem Wohnen existenziell. Nicht nur Schwindsucht, auch Einsamkeit kann töten. Wollen wir allein oder mit anderen leben? Und welche Möglichkeiten gibt es zwischen dem diskreten Charme der klassischen Kleinfamilie und einer aus der Wohnungsnot heraus geborenen WG?

Das Konstrukt «Zweck-WG»

In «Ein Zimmer für immer. Meine Suche nach einem Ort zum Bleiben» erzählt der Reporter der «Süddeutschen Zeitung» und Schriftsteller Lars Reichardt aus seiner Wohnsituation heraus. Ihm gehört ein Haus, er ist der «Boss», der mit dem «Bauchgefühl» Mitbewohner:innen als Untermieter:innen akzeptiert. Er nimmt sie aus finanziellen Gründen auf, aber auch, weil ein Haus gute Bewohner:innen braucht, die nach ihm schauen und vielleicht öfter da sind als er selbst. Reichardt nennt das Konstrukt «Zweck-WG», und doch fragt er sich, ob seine Mitbewohner:innen ihn mögen. Er jedenfalls mag sie, meistens. Da ist zum Beispiel der schwule Nils, der moniert, man könne den Duschkopf nicht abschrauben. Das würde sein Sexualleben ruinieren. Er sei «bottom», passiv. Oder Birgit, die über Schleimpilze forscht und dauernd die Fenster aufreisst, aus Angst vor Covid und Keimen. Oft ist vom «kleinsten gemeinsamen Nenner» die Rede, und der ist in einer sozialen Mengenlehre immer grösser, als wenn einer allein wohnt. Lars Reichardt erzählt von Wohnprojekten zwischen Genossenschaftsbau, Kommunen, alternativen Dorfgemeinschaften, Leben im Dreigenerationenhaus oder einer Jesuitengemeinschaft.

Beim Wohnen spielt Geld eine Rolle. Doch flimmert oft ein Schattenspiel zwischen Finanzierung, Liebe, Freundschaft. Da gibt es das Paar, das aus der gemeinsamen Wohnung eine Not-WG macht, weil eine Scheidung, Umzüge und doppelte Miete nicht zu leisten sind. Oder hoffen sie doch noch ein wenig auf sich? Dem ewigen Streit in Wohngemeinschaften, wer putzt und wann, wäre leicht durch eine «Putzfrau» oder einen «Puma» (Putzmann) zu begegnen – für den aber kein Geld in der Haushaltskasse ist. Oder reicht der Streit ums Putzen tiefer? Fehlen in dieser Gemeinschaft die liebevollen, die grosszügigen Gesten?

Mit zunehmendem Alter radikalisiert sich die Frage, wie man wohnen möchte. So erinnert sich Lars Reichardt an den jungen, zimmertoleranten Mann, der er einmal war, mit dem einschlägigen und einzigen Ficus benjamina seines Lebens in einer Spass-WG: «Wir hatten damals mit zwanzig einfach Wichtigeres zu tun als zu wohnen.» Heisst Erwachsenwerden, nach dem «Zimmer zum Bleiben» zu fragen? Und wäre dann ein Mann wie einer von Lars Reichardts Freunden, der mit seinem Wohnwagen durch die Welt zieht, ein ewig Jugendlicher?

Unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten bleibt die Frage, wie viel Nähe wir mit anderen möchten, welchen Rückzugsraum wir brauchen. Wohnraum ist Intimität. Und Erotik? Es gibt, so der Autor, Frauen, die mit keinem Mann zusammenwohnen können, weil das ihre Verdauung durcheinanderbrächte. Ist eine Wochenendbeziehung aufregender, weil sie den Alltagsmief von Schmutzwäsche vermeidet? Aber was, wenn man gerne die alten Unterhemden seines Mannes zusammenlegt, weil sie so viel von gemeinsamer Geschichte, die gut war, die schlecht war, in sich tragen?

Hühnersuppe zum Frühstück

Das Buch ist sommerleicht zu lesen und informativ. Wer weiss noch von «Piaggia» in Umbrien, gegründet 1982, eine der ältesten bekannten Kommunen Europas? Oder von «Tempelhof», dem schwäbischen Dorf, das unter dem Motto «Rituale statt Ritalin» Jugendliche integriert, die es in der Marktwirtschaft etwas schwerer haben?

Immer wieder greift der Autor in grosszügiger Offenheit auf eigene Erfahrungen zurück: Seine Mutter war Barbara Valentin; er hat über das «Busenwunder», die «Schwulenmutter», die Schauspielerin, die mit Fassbinder zur Charakterdarstellerin wurde und in der Folge ihres Drogenkonsums mit 61 Jahren starb, ein ergreifendes Buch geschrieben. In ihrem offenen Haus lebte das Schulkind Lars seine erste WG zusammen mit einem schwulen Paar, das ihm zur Familie wurde. Und das Hühnersuppe kochte, wenn die Wohnung morgens nach Zigaretten und Cognac stank und die letzten Gäste immer noch da waren.

Einer der schönsten Sätze des Buchs spricht von einer Frau: «Wenn sie redet, fühle ich mich zu Hause.» Und am Ende heisst es: «Mein Zuhause ist da, wo ich lese und schreibe.» Also braucht es schon das Zimmer. Aber, und das zieht sich als roter Faden durch das empathiebereite Buch: Es braucht die andern. Die Gemeinsamkeit mit denen, die anders sind und anders sein dürfen. Die das Haus öffnen und verhindern, dass es zum Versteck wird, zum Kerker. Auch wenn diese andern natürlich nerven. Auch wenn man mit ihnen ja wirklich nicht immer befreundet sein muss.

Buchcover von «Ein Zimmer für immer. Meine Suche nach einem Ort zum Bleiben»
Lars Reichardt: «Ein Zimmer für immer. Meine Suche nach einem Ort zum Bleiben». Sachbuch. Kein & Aber Verlag. Zürich 2023. 223 Seiten. 32 Franken.