Von oben herab: Freiheit, die wir meinen
Stefan Gärtner über den ersten Schultag
Weil man auf einem Kind so wenig stehen kann wie auf einem Bier und doppelt gemoppelt besser hält, haben wir ein grosses Kind und ein kleines Kind. Das grosse Kind geht seit neustem auf die weiterführende Schule, womit es erst einmal nicht glücklich war. «Papa», fragte mich nämlich das grosse Kind, «warum kann ich nicht einfach mit meiner Grundschulklasse zusammenbleiben?» – «Weil du kein skandinavisches Kind bist», habe ich geantwortet, und dass es mehrgliedrige Schulsysteme gebe, weil bzw. wo die Leute wollen, dass die Kinder unter ihresgleichen bleiben. Deshalb geht Grundschulfreund Ali jetzt auf die Gesamtschule und unser grosses Kind nicht, weil im separierenden Konkurrenzsystem die egalitäre Schulform keine sein kann. Und die «freie Schulwahl» bedeutet, dass ich das auch noch abnicke, so wie ich den ganzen dummen Cookies zustimme, freiwillig.
Für den freien Markt insgesamt gilt, dass Freiheit und Zwang nur die Seiten einer Medaille sind. Wir hätten die Freiheit gehabt, den Grossen mit seinem voll funktionsfähigen Dinoschulranzen in die neue Schule zu schicken, aber, heisst es im «Tagi» zum Thema «teure Schulausstattung», «etwa im Alter von zehn Jahren finden viele Kinder, sie benötigten nun einen Rucksack. ‹Sie gehören zu den Grösseren und wollen keinen Thek mehr – sie finden ihn zu bubig›», wird eine Ladenbesitzerin zitiert, die davon lebt, dass jemand die Idee hatte, Dinosaurier auf (wenn ich das reichsdeutsche Wort verwenden darf) Schulranzen zu sticken, was sicherstellt, dass nach der Grundschulzeit ein neuer Ranzen nachgefragt werden wird, weil man dann zu den Grösseren gehört. Jedenfalls benötigte also auch unser grosses Kind einen Rucksack, aber nicht irgendeinen, denn in dem versnobten Gymnasium, auf dem meine Frau als Mädchen war, wurden Kinder wegen des falschen Ranzens gehänselt, und obwohl sie weiss, wie der Hase läuft, sitzt das zu tief, als dass ich jetzt einen aus dem Sonderangebot kaufen dürfte.
In der Schweiz, lese ich im «Tagi» weiter, verlangen Kinder heute nach einem Ergobag-Ranzen, dem «Rolls-Royce unter den Theks»; bei uns beginnt die angesagte Marke mit S und ist im Laden ausdrücklich von den Sonderangeboten ausgenommen. Unser grosses Kind interessiert sich hauptsächlich für die Farbe (Schwarz), die Buben neben uns sind in der Materie dagegen so drin, dass sie der sichtlich müden Mama erklären können, warum es, schon aus praktisch-technischen Gründen (Stauraumerweiterung), der Rucksack von S sein muss. Firma also S, Farbe Schwarz, und die fehlende Wahlmöglichkeit erleichtert die Wahl ungemein, jedenfalls dann, wenn man genügend Geld hat, sie überhaupt zu haben.
Als ich das grosse Kind am ersten Tag in der neuen Schule zur Begrüssung in die Aula begleite, tragen viele Kinder einen Rucksack von S, denn dass man die Wahl hat, bedeutet halt die komplette Konformität. «Kinder wissen meistens sehr genau, was sie wollen», sagt die Ladenbesitzerin dazu, nämlich das, was alle wollen, und wenn sie erwachsen sind, geben sie ihrem Kind einen besonderen Namen, mit dem Ergebnis, dass alle Jungen Jonte heissen. Dass der Mensch unbedingt auffallen wolle, ist ja eher die Propaganda des Konsumkapitalismus, denn in der Umgebung zu verschwinden, ist evolutionär sehr viel sicherer. Die liberale Marktgesellschaft, und dafür sei sie wieder mal bewundert, ermöglicht beides zugleich: Wir haben die freie Wahl, auf welche Weise wir konform sein wollen, und das ist auch der Grund, warum Revolution so gar nicht auf dem Zettel steht.
Der Dinothek, dessen Kauf wir damals ganz arglos den Grosseltern überlassen haben, weil wir nicht wussten, was so ein Markenranzen kostet, steht jetzt erst mal im Eck. Denn auch das kleine Kind, das in zwei Jahren in die Schule kommt, weiss ganz genau, was es will: so sein wie das grosse Kind.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.
Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop.