Literatur: Kleiner Mensch, alt geboren

Nr. 34 –

Die Welt der Erwachsenen hält wenig Gutes für Agnes bereit. Und wenn, folgt eine Enttäuschung: Versprechen werden gebrochen, keine Beziehung verläuft konstant – ausser vielleicht die zur eigenen Mutter, die von gegenseitiger Missgunst geprägt ist. Inmitten dieser Umgebung verfolgt Agnes beharrlich ihre eigenen Ziele und lässt sich dabei von nichts abschrecken. An ihrer Seite ist Kristian, den sie aus dem Musikunterricht kennt. Beide besitzen eine einzigartige musikalische Begabung, gelten als Wunderkinder.

«Wunderkind» heisst auch das Buch der schwedischen Autorin Karin Smirnoff, das aus Agnes’ Perspektive erzählt ist. «Ich bin ein kleiner Mensch der alt geboren wurde», schreibt Agnes über sich selbst in einem Schicksalsmoment: Ihr kleiner Bruder Matteus, für den sie wie eine Mutter war, zieht mit seinem Vater nach Paris. Agnes sucht fiebrig nach Möglichkeiten, zu ihm zu gelangen. Schliesslich überredet sie gemeinsam mit Kristian ihren zwielichtigen Musiklehrer: Er organisiert ein Konzert mit den beiden in Paris.

Das eigentliche Vorhaben misslingt – der Stiefvater untersagt Agnes jeglichen Kontakt zu Matteus. Doch nun, weit weg von der Mutter, taucht plötzlich die Sehnsucht nach ihr auf. Ihr Telefon ist ausser Betrieb, und bei der Rückkehr ist die Mutter aus dem Haus, in dem sie gemeinsam wohnen, verschwunden. Doch da steht das Instrument, auf dem Agnes nie spielen durfte, weil die Mutter ihre Begabung nicht ertrug und durch Agnes ihre eigene Musikerinnenkarriere zerstört sieht. Agnes nutzt die Chance: «Ich spiele auf dem verbotenen Klavier wie ich nie zuvor gespielt habe.»

Karin Smirnoff schreibt in karger, kommaloser Sprache vom Aufwachsen in einer zerrütteten Welt, in der sich Agnes nur auf sich selbst verlassen kann – fast, denn die Freundschaft mit Kristian und der gemeinsame Erfindungsgeist helfen aus manchen verfahrenen Situationen oder bringen auch einfach etwas Freude ins Leben. So ist «Wunderkind» auch ein Buch über die Widerstandskraft von Kindern.

Buchcover von «Wunderkind»
Karin Smirnoff: «Wunderkind». Roman. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Hanser Verlag. Berlin 2023. 320 Seiten. 37 Franken.